Interview: Sherin Kneifl Bilder: SBB
2023 stellte das Unternehmen mit der Employer-Branding-Kampagne «Weil das Leben manchmal mehr Zeit braucht» seine Mitarbeitenden in den Mittelpunkt. Aus-
gezeichnet wurden die vom Team Farner erdachten Filmporträts mit einem Bronze-Würfel und einer Shortlist an den letztjährigen ADC-Awards. Genauso erfreulich waren 10 Millionen Views der Spots und ein Anstieg an neuen Bewerbungen um 160 Prozent. Verantwortlich seitens der SBB war Corinne Kuhn, Lead Employer Branding & HR Marketing. Der Fokus passt zur gesamten Kommunikationsstrategie, die souverän gefahren wird. Der Leiter Kommunikation, Andreas Stuber, gab uns selbstredend nach Plan und im Eilzugstempo Auskunft.
Herr Stuber, was bedeutet Perfektion für Sie?
Ein Aufpassfeld. Wir müssen in der Kommunikation nicht perfekt sein, sondern pragmatisch. Wir möchten Wirkung erzielen: Unsere Botschaften sollen ankommen und verstanden werden.
Was kommt gut an?
Geschichten, welche die Leute berühren. Unsere «Raison d’être» lautet: «SBB. Weil Verbindungen die Schweiz ausmachen». Damit sind auch zwischenmenschliche Beziehungen gemeint, Begegnungen am Bahnhof oder unterwegs im Zug. Eben Geschichten von Menschen für Menschen. Das gilt gleichwohl in der Kommunikation mit Mitarbeitenden im Gleisfeld, auf der Baustelle oder in der Betriebszentrale.
Gibt es einen übergeordneten Massstab, eine Leitlinie für die Kommunikation?
Nebst der «Raison d’être» unsere Markenwerte: Menschlichkeit, Komfort, Erlebnis, Nachhaltigkeit, Zukunftsfähigkeit. Die fünf Punkte zeigen, worauf wir achten wollen. Zudem sind in einem partizipativen Prozess Werte erarbeitet worden, nach denen sich die Mitarbeitenden richten: verantwortlich, respektvoll, beweglich, leidenschaftlich, ambitioniert. Daraus ergeben sich starke Leitlinien für unsere Kommunikation. Mir ist in der Umsetzung wichtig, schnell, aktuell und relevant zu kommunizieren. Nach journalistischen Grundregeln also.
Welches stellt sprachlich die grösste Herausforderung dar: die vier Landes-
sprachen, die Anglifizierung, die Ansprache jüngerer Leute, die Migration?
Die grösste Herausforderung ist die Kombination dessen, was Sie beschreiben. Wir kommunizieren selbstverständlich in den drei wichtigsten Landessprachen. Das allein ist herausfordernd. Ein Slogan beispielsweise lässt sich nicht eins zu eins übersetzen. Als bekanntes Unternehmen und Transportmittel von täglich 1,32 Millionen Reisenden stehen wir stark im Interesse der Öffentlichkeit, von Medien und der Politik. Und ja, junge Menschen erreicht man nicht auf klassischen Kanälen, sondern auf neuen wie Instagram oder TikTok. Gerade künftige Kundinnen und Kunden sind vermehrt dort zu treffen. Die Kommunikationslandschaft ist im Umbruch, das stellt uns vor grosse Herausforderungen. Mein Anliegen ist es, sie mit Offenheit und Freude anzugehen.
Welches war die tiefste Krise, durch die Sie kommunikativ hindurchmussten, und wie haben Sie das gemeistert?
Am schwierigsten ist es, wenn Menschen betroffen sind. Anspruchsvoll für das Unternehmen und auch die Kommunikation war der schwere Unfall eines Güterzugs im Gotthard-Basistunnel im vergangenen August, bei dem zum Glück niemand zu Schaden kam. Hingegen dauern die Auswirkungen noch immer an. Wir rechnen damit, dass der Tunnel im September wieder vollständig benutzt werden kann. Alle Beteiligten im Unternehmen ziehen hier am gleichen Strick, von jenen, die den Tunnel flicken oder die Züge planen und fahren, bis zu uns in der Kommunikation. Dass wir gefordert und geschätzt werden, ist ein schönes Gefühl und hilft, schwierige Situationen zu bewältigen. Speziell ist in Krisen der Anfang: Häufig ist in den ersten Stunden und sogar Tagen das ganze Ausmass unklar, ebenso, was genau passiert ist. Andere kommunikative Krisen entwickeln sich schleichend. Ein Beispiel ist das neue Kundenfrequenzmesssystem an Bahnhöfen, das wir im Februar 2023 öffentlich ausgeschrieben hatten. Es dient dazu, Bahnhöfe sicher zu gestalten, nämlich indem wir erfassen, wie Menschen sich dort bewegen. Aufgrund ungeschickter Formulierungen in der Ausschreibung wurden wir mit dem Vorwurf konfrontiert, wir wollten eine Gesichtserkennung installieren und die Kundschaft überwachen. Das war für uns absurd, und wir dachten zuerst, mit einem klaren Dementi sei die Sache erledigt. Da der Vorwurf einen gesellschaftlichen Nerv traf, hat sich die Geschichte sozusagen verselbständigt. Bewältigen konnten wir sie, indem wir besser erklärten, worum es wirklich geht, und die Ausschreibung punktuell anpassten.
Was ist das Mittel in der Krise: Transparenz und Ehrlichkeit?
Ja, unbedingt. Und eine gute Vorbereitung. Denn Krisen sind nie auszuschliessen. Bahnfahren ist sehr sicher, aber rein physikalisch geht es um grosse Kräfte und damit auch Risiken. Darum muss man sich bestmöglich vorbereiten. In der Situation selbst ist es zentral, bei den Fakten zu bleiben und nicht zu spekulieren. Wir müssen immer wieder erklären, worum es geht, Verständnis haben und empathisch sein.
Kürzlich reiste ich mit der Bahn von Zürich nach Stuttgart – über diverse Umwege dank der Deutschen Bahn. Warum klappt es in der Schweiz mit Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit, aber im Ausland weniger?
Wir haben in den vergangenen vier Jahren einen grossen Effort im Kerngeschäft Bahn gemacht, mit akribischer Planung von Baustellen und Betrieb, genügend Personal, mehr Ausbildungen und Unterhalt der Infrastruktur. Auch sind wir eine integrierte Bahn, das heisst, Infrastruktur und Personen- und Güterzüge sowie Immobilien gehören zusammen bzw. werden ganzheitlich geführt. Es gehört zu unserer DNA, laufend zu überlegen, wo und wie wir noch besser werden können. Die Finanzierung der Bahninfrastruktur ist in der Schweiz gut geregelt, während Deutschland gerade daran ist, einen enormen Nachholbedarf zu decken.
Die Ausreden für die verspäteten oder gar nicht fahrenden Züge auf meiner Stuttgart-Reise reichten übrigens von «Menschen auf der Strecke», über «kurzfristiger Personalengpass» und «technische Störung» bis zu «grossflächige Signalstörung». So ein Sammelsurium kann man doch als Kundin gar nicht glauben.
Die Information von Kundinnen und Kunden ist für ein Bahnunternehmen zentral. Und ja, Erklärungen müssen verständlich sein und nicht zu technisch oder gar mit Bahnjargon. Da hat auch die SBB noch Luft nach oben, gerade bei massiven Störungen, wo – wir sprechen von Chaosphase – noch vieles unklar ist und das Personal in den Zügen, an Bahnhöfen und in den Betriebszentralen stark unter Druck steht. Genauso wie die Reisenden, deren Zug nicht fährt oder stehen geblieben ist. Deshalb müssen wir uns rasch bei ihnen melden, auch wenn wir noch nicht wissen, wie es genau weitergeht.
An welchen ÖV-Vorbildern orientiert sich die SBB?
Am liebsten sind wir natürlich selbst Vorbild (lacht). Wir haben eine hohe Pünktlichkeit von 92,5 Prozent, worum uns nicht wenige europäische Länder beneiden. Trotzdem schauen wir uns immer wieder andere Bahnen an, um zu lernen und unser hochkomplexes System weiterzuentwickeln. In Japan gibt es hervorragende Hochgeschwindigkeitszüge wie den Shinkansen. Die Lokführer fahren mit weissen Handschuhen und auf die Sekunde genau. Dies ist deshalb möglich, weil der Shinkansen auf eigens reservierten Gleisen verkehrt. In der Schweiz hingegen haben wir Mischverkehr: Regional-, Fernverkehrs- und Güterzüge fahren auf der gleichen Infrastruktur.
Wenn Sie wählen könnten, würden Sie lieber im 911er fahren oder um 9 Uhr 11 von Bahnsteig 3 abfahren?
Natürlich das Zweite. Ich bin noch nie in einem 911er gefahren. Grundsätzlich macht mir Autofahren aber durchaus Spass.
Welches ist Ihre Lieblingsstrecke mit der SBB und weshalb dort lang?
Auf der Strecke von Bern nach Lausanne passiert man nach Palézieux den Vauderens-Tunnel – an dessen Ende hat man linker Hand einen grandiosen Ausblick auf den Genfersee, die Weinberge des Lavaux und im Hintergrund die Savoyer Alpen. Ich sitze, wenn möglich auf der Seeseite, geniesse die Szenerie und mache ein paar Fotos, weil ich mich an dieser Landschaft gar nicht sattsehen kann. Übrigens gab es früher offenbar ein Bonmot in der Westschweiz dazu: Deutschschweizer hätten das Retourbillett zerrissen, als sie aus dem Tunnel gekommen sind und sich dieser traumhafte Anblick vor ihnen aufgetan hat.
Apropos Legenden: Was ist für Sie die legendärste SBB-Kampagne?
«Der Kluge reist im Zuge.» Der Slogan von Werbetexter Werner Belmont stammt aus dem Jahr 1958 und hat Einzug in den Schweizer Sprachgebrauch gehalten. Ebenfalls schön: 2014 hat die SBB eine Dachkampagne lanciert: Unterwegs zu Hause. Ein Bestandteil war das Lied «Welcome Home», für das wir ein internes Casting durchführten. Es wurde schliesslich von Lokführer Hanspeter und Mitarbeiterin Selina gesungen und schaffte es gar in die Hitparade.
Das Potenzial, legendär zu werden, hat unsere aktuelle Kampagne «Ein Tick besser. Ein Tick grüner». Damit machen wir auf unser Nachhaltigkeitsengagement mit mehr als 200 Nachhaltigkeitsmassnahmen aufmerksam. Wir haben es gewagt, den roten Zeiger der ikonischen SBB-Uhr temporär auf Grün zu stellen.
Was kann man einfach nicht kommunizieren?
Da halte ich es mit dem Philosophen Paul Watzlawick: «Man kann nicht nicht kommunizieren.»