Interview: persoenlich Bilder: Gian Marco Castelberg, Nicolas Duc
Herr Ilg, wie passt eigentlich ein Museum zur Migros?
Das ist eine Frage, die uns hauptsächlich im Ausland gestellt wird. Wenn die internationale Kunstszene vom Migros-Museum spricht, wissen wenige, dass hinter dem orangen M ein Detailhandelsunternehmen steckt. Das gesellschaftliche Engagement der Migros ist weltweit einzigartig – niemand erwartet das. In der Schweiz kennt man die Marke Migros-Kulturprozent jedoch gut. Unser Museum gliedert sich als Kulturprozent-Institution ins gesamte Engagement der Migros-Gruppe ein und folgt dem Auftrag, den Zugang zu Kultur zu demokratisieren.
Wie ist dieses Museum entstanden?
Kunst ist mit der Geschichte der Migros eng verbunden: Bereits in den 1950er-Jahren begann Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler Kunstwerke anzukaufen, um lokale und nationale Künstler*innen zu fördern. Gleichzeitig wollte er damit seine Mitarbeitenden mit Kunst in Berührung bringen – die Kunstwerke hingen in den Büroräumlichkeiten. Daraus entstand über die Jahre eine professionelle Unternehmenssammlung mit bekannten Künstler*innen wie Pipilotti Rist, Ugo Rondinone oder Wu Tsang – viele von ihnen haben wir gekauft, bevor sie grosse Namen waren.
Das Museum wurde aber erst in den 1990er-Jahren gegründet …
Genau: 1996 eröffnete das Migros-Museum für Gegenwartskunst im heutigen Löwenbräukunst in der Nähe des Limmatplatzes seine Tore – mit dem Auftrag, diese mittlerweile international bekannte Sammlung einer breiten Bevölkerung zugänglich zu machen. Es entstand ein Nukleus für Gegenwartskunst: Das neue Museum kannte man damals für seine wilden Partys und Performances und dafür, den Alltag ins Museum zu holen. Inhaltlich beschäftigte man sich stets mit gesellschaftlichen Themen, angeregt durch zeitgenössische Kunst.
Wie hat sich das Museum seit seiner Eröffnung verändert?
Bis heute ist das Haus ein wichtiger Ort der Begegnung mit zeitgenössischer Kunst. Unsere Sammlung umfasst rund 1600 Kunstwerke und wir zeigen 5 bis 6 Wechselausstellungen jährlich: sowohl mit Werken aus der Sammlung wie auch Arbeiten von aufstrebenden Künstler*innen. Dabei wollen wir dem Publikum auf Augenhöhe begegnen – und sowohl Personen vom Fach als auch Menschen, die ihre erste Berührung mit Gegenwartskunst haben, sollen sich im Museum wohl fühlen. Deshalb bieten wir auch unterschiedliche Formate: Schulführungen, Familienworkshops, öffentliche Rundgänge, Artist Talks, Audioguides …
Dazu kommt noch der freie Eintritt …
Letztes Jahr haben wir den freien Eintritt eingeführt, das war ein grosser Schritt. Damit wollen wir das Museum allen Menschen zugänglich machen, ganz im Sinne Duttweilers. Zeitgenössische Kunst ist oft ein Experiment. Bei einer Monet-Ausstellung weiss ich sehr genau, was mich erwartet – Gegenwartskunst ist oft überraschend. Der freie Eintritt ist eine Einladung, sich darauf einzulassen.
Seit Dezember 2023 wird das Migros-Museum von einem Kollektiv geführt – ein Novum für die Schweizer Museumslandschaft.
Warum dieser Schritt?
Als private Institution hatten wir die Möglichkeit, die Leitung eines Museums komplett neu zu denken. Mit der gewählten Struktur reagieren wir auf eine Welt, die immer komplexer wird. Von Anfang an stand der Mensch im Zentrum: Wie können wir möglichst nah bei unserem Publikum sein? Uns überzeugte, dass so Bereiche wie Kommunikation und Programme – also unmittelbare Schnittstellen zum Publikum – direkt in der Leitung vertreten sind.
Wie sind Sie in der kollektiven Leitung aufgestellt?
Die fünf Fachbereiche Ausstellungen, Kommunikation, Programme, Sammlung und Verwaltung leiten das Museum gleichberechtigt – die oberste Hierarchiestufe haben wir abgeschafft. Dadurch wird nicht bloss der Dialog zwischen den Bereichen gestärkt, die Bereiche übernehmen direkt Verantwortung. Da wir dadurch viel proaktiver handeln, konnten wir zahlreiche Entscheidungswege auch verkürzen.
Was bedeutet dies für das Publikum?
Wir haben gerade unseren Strategieprozess abgeschlossen – die kollektive Leitungsform wird sich konsequent in unseren Aktivitäten widerspiegeln: Neben der Kunst steht bei uns immer auch das Publikum im Zentrum. Dies hat beispielsweise einen starken Einfluss auf unsere Ausstellungstexte. Im Dialog zwischen den verschiedenen Bereichen schauen wir, dass diese sowohl die kuratorische Perspektive berücksichtigen wie auch die Vermittlung und Kommunikation. Kommunikativ ist es wichtig, dass man die Texte gut versteht und gerne liest – also kurz: verständliche und ansprechende Formulierungen. Ergänzend gibt es auch Informationen in einfacher Sprache oder Gebärdensprachübersetzungen.
Die Ausstellungen sollen also noch nahbarer sein?
Klar ist es uns wichtig, dass sich alle Menschen in unseren Ausstellungen wohl fühlen. Aber es geht nicht nur um Ausstellungen – wir wollen diesen Rahmen bewusst sprengen. Im Herbst werden wir ein sogenanntes «Public Practice»-Projekt starten. Die niederländische Künstlerin Jeanne van Hees-wijk erarbeitet Projekte, die langfristig in
öffentliche Räume und in die lokale Gemeinschaft eingebettet sind – gleichzeitig von aussen über die Schwelle ins Museum reinkommen. Dafür ist sie bereits stark in unserer Region am Recherchieren und tritt mit unserer Nachbarschaft in den Dialog. Was entstehen wird, ist noch unbekannt. Es kann gut sein, dass dieses Projekt ausserhalb unserer Ausstellungsräume stattfinden wird und sich stark in die lokale Gemeinschaft einbringt. Wie Duttweiler mit seinen Migros-Lastwagen gehen wir mit der Kunst zu den Leuten.
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