Interview: Sherin Kneifl Bild: zVg
Herr Alijaj, wie lautete das Briefing an Farner für Ihre Wahlkampagne: Ich will in den Nationalrat, ich will bekannt werden …?
Das Briefing gab ich mündlich im ersten Meeting mit dem Kampagnenchef David Wember: Ich will kein Mitleid. Lass uns eine geile Kampagne machen, das wird historisch!
Wann entstand die Idee, sich für ein politisches Amt zu bewerben?
Vor 13 Jahren, als mir unter Verweis auf meine Behinderungen vom Studieren abgeraten wurde. Ab dem Moment war mir klar, dass Menschen mit Behinderungen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.
Was war Ihre erste Amtshandlung als Nationalrat?
Ein Vorstoss, die SBB müssten uns Menschen mit Behinderungen kostenlos befördern, solange der skandalöse Zustand anhält, dass die lange versprochene und gesetzlich vorgeschriebene Barrierefreiheit nicht vollständig umgesetzt ist.
Ihr langfristiges politisches Ziel ist die rechtliche und politische Gleichstellung
von Menschen mit Behinderungen. Was braucht es konkret, damit das gelingt?
Der Schlüssel ist die Assistenz. Mir beispielsweise war es dank einer Sprechassistenz möglich, auch als Schwerbehinderter Nationalrat zu werden. Genau da setzt die Inklusionsinitiative an, deren Ziel lautet, Menschen mit Behinderungen grundsätzlich zu befähigen, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Heute verkümmern leider viele in Einrichtungen. Das darf nicht sein.
Einer der wichtigsten Bestandteile Ihrer Wahlkampagne war ein KI-gestützter
Sprachgenerator. Nutzen Sie diesen mittlerweile öfters?
Ja, und die Technik hat sich rasant entwickelt. Zuletzt sprach ich bei der Eröffnung des neuen Accessibility Discovery Center von Google in Zürich zusammen mit meinem Avatar. Nicht nur meine Stimme ist inzwischen schon deutlich akkurater abgebildet als noch im Wahlkampf, auch meine Gestik kann jetzt vom Avatar imitiert werden.
Was war das schönste Feedback auf Ihre Wahl?
Am Wahlabend stand mein Sohn vor einer Gruppe von Unterstützer*innen und sagte: «War ja eh klar, dass mein Papi gewinnt.» Die Szene hat mich sehr berührt, denn es ist eben nicht selbstverständlich, dass Kinder von Menschen mit Behinderungen so selbstbewusst über ihre Eltern sprechen. Letzten Endes mache ich das alles für meine Kinder, die nicht in einer Gesellschaft aufwachsen sollen, in der ihr eigener Vater als minderwertig angesehen wird.
Haben Sie im Laufe der Zusammenarbeit mit der Agentur gemerkt, dass Sie ein Umdenken anregen, dass sich etwas im Team verändert?
Nein. Mein Team und ich, das war Liebe auf den ersten Blick. Aber ich war lange Zeit der Einzige, der sich sicher war, dass es am Schluss auch klappt. Am Wahlabend konnte ich dann frohlocken: Schaut, ich hab’s euch doch immer gesagt!
Welches war die grösste Hürde, die Sie auf dem Weg in den Nationalrat gemeistert haben?
Mental stark zu bleiben. Wahlkampf ist oft frustrierend und voller Rückschläge. Zudem ist aus der Sicht eines Menschen mit Behinderungen der Kampf um Aufmerksamkeit – den wir ja gewissermassen unser ganzes Leben lang führen müssen – nochmals eine besondere Belastung.
An den ADC Awards 2024 hat Ihre Wahlkampagne unter anderem Gold in Creative Effectiveness gewonnen. Was bedeutet Kreativität für Sie?
Kreativität ist der Schlüssel. Ich hadere oft mit gängiger Inklusionskommunikation, die das Behindertsein stark ins Zentrum rückt. Deshalb habe ich bei der Diskussion über mein Wahlplakat eingeworfen, dass es schlimm genug ist, im richtigen Leben schwerbehindert zu sein. Das muss man doch nicht auch noch auf dem Plakat sehen. Und ich glaube, gerade diese neue Ansprache hat vielen Wählern gefallen.
Ausserdem gab es den ADCESG Award, der eben nicht nur hervorragende Werbung belohnt, sondern solche, die zu einer besseren Welt beiträgt. Ist Ihre Welt seither ein bisschen besser?
Die Welt vielleicht nicht, aber die Schweiz wäre ja ein Anfang. Ich bin unglaublich stolz darauf, wie viele Leute meine Kampagne unterstützt haben, die aufgrund der staatlichen Einstufung ihrer kognitiven Fähigkeiten selbst kein Wahlrecht haben. Ich stehe auf den Schultern eines Teils der Gesellschaft, der bis heute entrechtet und gedemütigt wird. Das werde ich nie vergessen.
In Sachen ESG ist ein Gegentrend spürbar: Man bekommt den Eindruck, als würden die Themen so langsam wieder ein bisschen erstickt. «Go woke, go broke» ist ein Satz, der rumgeistert. Eine Migros erzählt plötzlich, dass Nachhaltigkeit nicht mehr im Fokus steht. Besorgt sie die Entwicklung im Bereich ESG?
Ich kann nur für den Bereich der Inklusion sprechen, und da ist die Entwicklung positiv. Das vergangene Jahr war gesamtgesellschaftlich betrachtet eines der besten in der Geschichte der Schweizer Behindertenbewegung – von der ersten Behindertensession über die Lancierung der Inklusionsinitiative bis hin zur Nationalratswahl, bei der viele Kandidierende mit Behinderungen antraten. Im Jahr 2023 war das Thema Behinderung ziemlich sexy, wie ich finde.
Was bedeuten Ihnen solche Auszeichnungen?
Mehr, als viele vielleicht denken. Zum einen bin ich sehr eitel. Zum anderen möchte ich zeigen, dass man gerade als Mensch mit Behinderungen gute Kommunikation betreiben kann.
Sie präsidieren die Vereine selbstbestimmung.ch sowie Tatkraft. Jeder gute Präsident hat einen Redenschreiber. Sie auch?
Wenn eine wichtige Rede ansteht, spreche ich gelegentlich mit David Wember – er hat auch meine erste Nationalratsrede mit mir erarbeitet, die mittlerweile fast 900 000 Aufrufe auf Instagram hat.
Der Wahlslogan lautete: Giving a voice to the unheard. Was haben Sie bisher noch nicht gesagt?
Mit meiner Wahl wurde ich zu einem der wenigen Menschen mit Behinderungen, denen man wirklich zuhört. Ich verstehe dieses Privileg als Auftrag aller in der Schweiz, die nicht meine Hartnäckigkeit und meine Fortüne hatten.
Haben Sie ein politisches Vorbild?
Ein politisches nicht, aber ich habe immer Steve Jobs als grossen Visionär bewundert.
Wer etwas Wichtiges zu sagen hat, macht keine langen Sätze, siehe die US-Präsidenten John F. Kennedy: Ich bin ein Berliner. Oder Barack Obama: Yes, we can.
Was würde zu Ihnen passen?
Alles ist möglich.
Wolfgang Schäuble wäre prädestiniert gewesen, eines Tages Bundeskanzler in Deutschland zu werden. Der Rollstuhl habe ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht, sagte er einst. Kann solch ein Handicap wirklich verhindern, dass jemand ein derart hohes Amt bekleidet?
Ich bin fest davon überzeugt, dass irgendwann in der Gesellschaft ein Paradigmenwechsel stattfinden wird. Heute sortieren viele die Bevölkerung in zwei Gruppen: die Behinderten und die Nichtbehinderten. Aber die Behinderung ist bloss ein Aggregatzustand, von dem jede*r leider nur eine Sekunde, nur ein Unglück entfernt ist. Die meisten Menschen sind nicht von Geburt an behindert, sondern werden es im Laufe ihres Lebens. Wenn wir uns das bewusst machen, dann ist auch alles möglich.