18.12.2024

Verbandspartner

«Vereine sind eine Schule der Demokratie»

Wie lassen sich Freiwillige finden und motivieren, die sich für einen Verein oder ein Projekt engagieren? Die gute Nachricht: Es gibt sie. Die Herausforderung: Man muss Strukturen schaffen, die sie ansprechen. Jessica Schnelle, Leiterin Soziales bei der Direktion Gesellschaft & Kultur beim Migros-Genossenschafts-Bund, zeigt auf, wie das gelingen kann. Dabei beruft sie sich auf die neuste Fallstudie, die das Migros-Kulturprozent beim Gottlieb-Duttweiler-Institut (GDI) in Auftrag gegeben hat.
Ausgabe 12/2024: «Vereine sind eine Schule der Demokratie»
Jessica Schnelle, Leiterin Soziales beim Migros-Genossenschafts-Bund.

Interview: Monica Müller-Poffa Bilder: zVg

Frau Schnelle, wie wichtig ist Freiwilligenarbeit in der Schweiz?

Sehr, sehr wichtig. Eine Schweiz ohne Freiwilligenarbeit wäre nicht vorstellbar, sagt Markus Lamprecht, der Autor des Freiwilligenmonitors. Laut diesem gibt es in der Schweiz rund 100 000 Vereine. Jede vierte Person über 15 Jahren führt mindestens eine unbezahlte Freiwilligenarbeit aus, bei den 40- bis 64-Jährigen ist es gar ein Drittel. Im Jahr 2020 haben laut dem Bundesamt für Statistik 3 Millionen Menschen in der Schweiz zusammen mehr als 12 Millionen freiwillige Arbeitsstunden verrichtet. Ob in der Politik, bei Freizeitaktivitäten, in sozialen Bewegungen, bei Hilfswerken oder in der Nachbarschaftshilfe: Im Vergleich zu anderen Ländern ist die Schweiz bei der Freiwilligenarbeit herausragend. 

Woran liegt das?

Bestimmt auch am politischen System in unserem Land, das viel Wert auf Selbstverantwortung legt. Freiwilligenarbeit ermöglicht, dass wir als Gesellschaft funktionieren. Dass wir so leben können, wie wir leben. Vereine sind eine Schule der Demokratie. Ob in der Pfadi oder im Jassklub: Wir müssen uns als Gruppe fragen: Wie organisieren wir uns? Wie kommen wir auf eine Idee und erreichen ein Ziel? Freiwilliges Engagement ermöglicht uns auch, unsere demokratischen Werte zu pflegen und neue Ideen, die unser Zusammenleben besser machen sollen, umzusetzen.

Trotzdem bekunden Vereine, Initiativen und soziale Gruppen Mühe, Engagierte zu gewinnen. Weshalb?

Durch die zunehmende Individualisierung sind die Menschen stärker in den Arbeitsmarkt eingebunden und haben weniger Zeit. Auch die Mobilität und der wirtschaftliche Druck haben zugenommen. Insgesamt gehen wir deshalb weniger Verbindlichkeiten ein. Die Aussicht, ein Amt in einem Verein drei Jahre ausüben zu müssen, entspricht den wenigsten. 

Fordern Vereine zu viel von den Leuten?

Grundsätzlich machen es viele Vereine sehr gut. Und dort, wo der Nachwuchs ganz dringend gesucht wird, lohnt es sich vielleicht, zu fragen, welche unausgesprochenen Erwartungen bestehen. Zum Beispiel: Nach fixen Mustern verfügbar sein zu müssen und negativ aufzufallen, wenn man einmal fehlt – darauf wollen sich die wenigsten noch einlassen. Stattdessen könnten Vereine oder soziale Gruppen auch die Haltung haben: Wer da ist, ist da und bringt sich mit dem ein, was sie oder ihn antreibt. Die Vorstellung von der grossen Verbindlichkeit könnte abgelöst werden von einer viel luftigeren Form der Zusammenarbeit: Wer jetzt im Moment Lust hat, sich zu engagieren, der macht das. Auch wenn es nur drei Monate und nicht drei Jahre sind. 

Ist diese Einsicht bei Organisationen gereift, die angewiesen sind auf Engagierte?

Das ist der grosse Knackpunkt. Vermutlich gibt es viele, die dies wissen. Aber es dann in der Praxis auch anzuwenden, ist hoch anspruchsvoll. Denn jede Organisation braucht eine gewisse Kontinuität, damit sich etwas entwickeln kann. Es braucht Menschen, die an der Idee dranbleiben, die Struktur des Vereins oder der Bewegung tragen und dennoch unterschiedliche Formen der Beteiligung ermöglichen – von kleinen Einsätzen bis hin zu neuen Ideen. Die an manchen Orten bestehende Vorstellung, dass der Nachwuchs alles so macht, wie es bisher gemacht wurde, trägt dem zu wenig Rechnung. Hier muss eine neue Vorstellung wachsen, dass gesellschaftliches Engagement auch anders geht.

Besteht denn heute überhaupt noch ein Interesse, sich zu engagieren?

Ja, besonders bei zwei Gruppen: Zum einen zeigen gerade junge Menschen ein hohes Interesse, sich beispielsweise für den Klimawandel einzusetzen. Zum anderen gibt es auch ein Riesenpotenzial bei den Babyboomern, die noch fit sind und über ein hohes Bildungsniveau verfügen. Sie möchten der Gesellschaft etwas zurückgeben, gleichzeitig aber ihr Leben gestalten und zum Beispiel reisen können. 

In der GDI-Fallstudie «Hier und jetzt engagiert», die das Migros-Kulturprozent in Auftrag gegeben hat, werden vier Projekte analysiert, die besonders erfolgreich neue Freiwillige mobilisiert haben. Wie hat das etwa die Bewegung Critical Mass geschafft? 

Es ist eine Bewegung, bei der jeder weiss: Critical Mass findet in Zürich und zahlreichen anderen Städten rund um den Globus häufig am letzten Freitag des Monats statt, Treffpunkt ist immer am selben Ort. Gemeinsam fährt man dann mit dem Velo durch die Stadt. Und bringt so zum Ausdruck, dass es mehr Platz für den nicht motorisierten Verkehr braucht. Jeder darf eine Strecke vorfahren, und es wird Wert darauf gelegt, dass es keine Hierarchien gibt. Man kommt mit Gleichgesinnten spontan zusammen, hat Spass, muss sich nicht verpflichten. Und verknüpft die eigenen Interessen mit etwas Übergeordnetem. Heute braucht Critical Mass in Zürich eine Bewilligung, und es ist komplizierter geworden.

Können Sie noch ein weiteres Modell der freiwilligen Zusammenarbeit nennen, das beispielhaft ist?

Das Haus pour Bienne in Biel. Das Gebäude gehört der evangelisch-reformierten Gesamtkirchgemeinde in Biel, wird aber vom Verein Fair! betrieben und macht sozial integrierende Arbeit. Es steht allen zur Verfügung. Man kann dort gratis Räume mieten – das zieht enorm. In Sprachkursen, Nähgruppen, Malateliers oder zum Pingpongspielen kommen ganz viele unterschiedliche Menschen zusammen. Es gibt zwei soziokulturelle Animator*innen, die vom Verein angestellt sind und das Haus pour Bienne in niedrigen Pensen leiten. So offen es wirkt, es gibt jemanden, der koordiniert, Beziehungen gestaltet und Spielregeln festlegt. 

Beiden Beispielen gemeinsam ist eine grosse Offenheit. 

Es gibt eine Struktur, aber eine sehr flexible. Das Fazit der Studie: Allen vier analysierten erfolgreichen Beispielen gemeinsam ist ein Nährboden, ein Mutterschiff. Bei den Ideen und Möglichkeiten, die daraus oder darin entstehen, ist die Offenheit gross. Wer heutzutage freiwillig Engagierte gewinnen will, muss mitgestalten und projektbezogene Engagements ermöglichen. Und den Einsatz, wie er ist, willkommen heissen und wertschätzen. Die vier Fallbeispiele zeigen lediglich vier mögliche Umsetzungsformen, freiwillig Engagierte zu gewinnen. Es gibt sicherlich noch viel mehr spannende, erfolgreiche Beispiele! 

Warum unterstützt das Migros-Kulturprozent die Freiwilligenarbeit überhaupt?

Unsere Lebensweisen, die Demografie und die geopolitische Lage verändern sich. Freiwilliges Engagement ist ein Raum, in dem wir etwas aushandeln und gemeinsam auf etwas hinwirken können. In unserer vielstimmigen Gesellschaft ist das unglaublich wichtig. Es liegt in der DNA der Migros, sich für den Kitt in der Gesellschaft einzusetzen. Wir bauen hier auf Duttis zehnter These auf, die besagt, dass es einer Firma nur so gut gehen kann, wie es der Gesellschaft geht. 

Zum Schluss eine persönliche Frage: Wie engagieren Sie sich? 

Ich habe das Netzwerk Erzählcafé in der Schweiz mitbegründet und eine Moderator*innenausbildung  absolviert. Und so habe ich in Kreuzlingen mein erstes Erzählcafé durchgeführt, eine Woche vor dem Termin habe ich Plakate aufgehängt. Nur leider ist keiner gekommen. 

Oje. Und dann?

Ich habe meine Idee im November letzten Jahres in einem Projektraum – ebenfalls ein Projekt des Migros-Kulturprozents – vorgestellt und fand so vier Frauen, die auch Erzählcafés moderieren wollten. Jede mit ihrem Blick auf die Welt und ihrem Netzwerk. Es kamen viele – auch kreative – Ideen zusammen, bei denen ich mich selbst zur Offenheit ermahnen musste. Mittlerweile führen wir alle Erzählcafés jeweils zu zweit durch und haben bereits einige Stammkundinnen und -kunden gefunden. So wächst das Publikum – und es macht Freude. 

                                                                                                                         

«Hier und jetzt engagiert»

Das Migros-Kulturprozent hat die Fallstudie «Hier und jetzt engagiert – vier Beispiele für die erfolgreiche Mobilisierung neuer Freiwilliger» beim Gottlieb-Duttweiler-Institut (GDI) in Auftrag gegeben. In der Studie geben Engagierte von vier exemplarischen Projekten Auskunft, wie es ihnen gelingt, immer wieder neue Freiwillige zu mobilisieren und dabei in die Gesellschaft hineinzuwirken. Seit 1957 setzt sich das Migros-Kulturprozent für eine vielfältige, solidarische und verantwortungsbewusste Gesellschaft ein. Die Förderung und Unterstützung des freiwilligen Engagements bildet von jeher einen Schwerpunkt dieser Arbeit. Zur Studie gehört auch ein Leitfaden zum Selbstcheck, mit dem man die eigenen Antworten mit denjenigen der befragten Projekte vergleichen kann. Zudem können Tipps hochgeladen werden, was in den eigenen Organisationen gut funktioniert, um neue Freiwillige zu gewinnen. Unter den eingesandten Antworten werden bis zum 31. Januar 2025 15 Migros-Gutscheine à je 100 Franken verlost. 

engagement.migros.ch/de/freiwillig


Download als PDF-Dokument

Diese Artikel könnten Sie auch interessieren