19.08.2024

Bach 2.0

Der digitale Bach ist jetzt ein Thuner

Die Bachwochen Thun hauchen ihrem Namensgeber neues Leben ein. Der Barockkomponist begrüsst als Deepfake in einem Werbevideo das Publikum. Vital Frey, künstlerischer Leiter des Klassikfestivals, will damit einen neuen Zugang zum alten Meister schaffen – und hofft auf virale Verbreitung in Asien.
Bach 2.0: Der digitale Bach ist jetzt ein Thuner
Johann Sebastian Bach wie ihn Elias Gottlob Haussmann gemalt hatte (links) und die digitale Interpretation des iranischen 3D-Künstlers Hadi Karimi. (Bild: zVg/Bachwochen Thun)

Da steht er und posiert für ein Porträt. Aber eigentlich hat er gar keine Zeit und auch die Geduld nicht dafür. Eine angefangene Komposition sollte dringend fertiggestellt werden. Und so wendet er sich vom Maler und der Leinwand ab und wieder seinen Noten zu.

Die Filmszene mit Johann Sebastian Bach spielt im Jahr 1746 und stellt die Situation nach, als das bekannteste erhaltene Abbild des Barockkomponisten entstand. Zwei Porträts von Elias Gottlob Haussmann, jenes von 1746 und eines von 1748, prägen die Wahrnehmung Bachs bis heute. Im Gegensatz zu vielen anderen Gemälden gelten sie zudem als gesicherte Darstellungen des Komponisten.

Als Bach-Spezialist und künstlerischer Leiter der Bachwochen Thun kennt natürlich auch Vital Frey das Haussmann-Porträt. Seit einem Jahr beschäftigt er sich sehr intensiv damit.

Wie wäre es, wenn man ein Foto von Bach hätte?

Als Festivalleiter sucht Frey immer wieder nach Wegen, wie man den alten Meister – über seine Musik hinaus – zeitgemäss an die Leute bringen und neue Zugänge für ein breiteres Publikum öffnen könnte. Darum fragte er sich vor einem Jahr: Wie wäre es, wenn man ein Foto von Bach hätte? «Das würde ihn nahbarer machen und wenn wir sagen: Hier ist eine Fotografie von Bach, da schauen die Leute hin», sagt Vital Frey im Gespräch mit persoenlich.com.

Was vor wenigen Jahren noch ein Gedankenspiel geblieben wäre, lässt sich heute dank künstlicher Intelligenz umsetzen; zwar nicht als «echte» Fotografie, weil die Technik im 18. Jahrhundert noch nicht erfunden war, aber immerhin als digitale Annäherung oder Simulation.

Unbefriedigende Fingerübungen mit KI-Tools

Und so machte sich Vital Frey mit dem berühmten Haussmann-Bild ans Pröbeln und experimentierte mit verschiedenen frei verfügbaren KI-Instrumenten. Sein Ziel war es, aus dem historischen Gemälde ein Abbild zu generieren, das unserem Begriff einer Fotografie entspricht. Doch die Ergebnisse blieben allesamt unbefriedigend, wie die folgenden drei Bilder zeigen:


Anstatt enttäuscht aufzugeben, schraubte Frey die Ansprüche höher. Wenn es mit dem Foto nicht geklappt hat, warum dann nicht gleich ein Video? Bach 2.0 als Deepfake.

Über Umwege stiess Frey auf Hadi Karimi, einen iranischen 3D-Künstler, spezialisiert auf fotorealistische Porträterstellung. Der Zufall wollte es, dass Karimi neben zahlreichen anderen Künstlerinnen und Künstlern aus Vergangenheit und Gegenwart auch das Gesicht von Johann Sebastian Bach digital interpretiert hat. Damit lässt sich arbeiten, dachte sich Frey. Und der Zeitpunkt schien ihm auch ideal zu sein: «Alle reden heute von KI und Deepfake. Wenn wir das machen, dann jetzt. Sonst macht es jemand anderes.» Die Bachwochen Thun sind schliesslich nur eine von weltweit unzähligen Institutionen, die das musikalische Erbe des Barockkomponisten pflegen.

Eigentlich kein Geld und keine Zeit für den KI-Bach

«Nun ging es erst richtig los», erinnert sich Vital Frey. Seine Idee war es, einen Kurzfilm zu drehen mit einem Deepfake-Bach als Hauptdarsteller, der auf die Bachwochen aufmerksam macht. Geld oder Zeit war für ein solches Pionierprojekt eigentlich keines vorhanden. «Es war nur möglich, weil die Bachwochen Thun ein kleines Festival mit kurzen Entscheidungswegen sind», sagt der künstlerische Leiter. «Aber es war dennoch schwierig, etwas zu realisieren, das nicht budgetiert ist und dessen Ausgang völlig offen ist.» Umso wichtiger war es, dass Geschäftsführerin Séverine Payet die Zügel in der Hand und Vital Frey den Rücken freihielt.

Zwar hielt das Festival mit dem digitalen 3D-Bach den Kern für das Filmprojekt in der Hand. Dazu hatten sie Hadi Karimi, dem iranischen Künstler, die Rechte für die exklusive Verwendung und die kommerzielle Nutzung abgekauft. Als Schauspieler fand man Christoph Müller für die Rolle von Bach und Eugen Jost als Porträtmaler Haussmann. Die Videoproduktion übernahm Andreas Graf von Epic Lab. Als historische Lokalität für den Filmdreh, die an die Thomasschule Leipzig gemahnen soll, wo Bach seinerzeit als Kantor und Lehrer wirkte, diente der Turmsaal von Schloss Holligen in der Stadt Bern.

Im Deepfake steckt indisches IT-Know-how

Für die Schlüsselaufgabe, nämlich den digitalen Bach-Kopf dem realen Schauspieler «überzustülpen», setzte Frey auf IT-Kompetenz aus Indien, nachdem das Ergebnis eines einheimischen Partners nicht überzeugt hatte. Das Konterfei des Komponisten liegt bei der Deepfake-Version nun nahe an der Darstellung des Haussmann-Porträts, das als Grundlage für die digitale Version des Bach-Kopfs diente:

Damit man sich selbst ein Bild davon machen kann, ob der Deepfake gelungen ist, werden die Bachwochen Thun zu einem späteren Zeitpunkt auch den Clip mit dem unveränderten Gesicht von Schauspieler Christoph Müller veröffentlichen. Bei allen Vergleichsmöglichkeiten: Wie Bach wirklich ausgesehen hat, wird ein ewiges Geheimnis bleiben.

Wenn man sich schon bei der visuellen Darstellung um historische Authentizität bemüht, dann sollte natürlich auch die Sprache nach 18. Jahrhundert klingen. Wie beim Bild gibt es auch hierfür keine eindeutigen Belege, weil keine Klangdokumente aus dieser Zeit existieren. Klar ist nur so viel: Bach sprach aufgrund seiner Herkunft und seines Wirkungskreises einen sächsischen Dialekt.

Bach hätte ein Festival wohl Collegium Musicum genannt

Um sich mit dem Wortschatz des Komponisten vertraut zu machen, las Vital Frey Bachs Briefkorrespondenz. Das half ihm, die passenden Begriffe zu finden für ein Filmskript, das auch Bezug zur Gegenwart nimmt. «Ein Festival oder eine Konzertreihe gab es zu Bachs Zeit noch nicht. Darum wählte ich als Behelf den Begriff des Collegium Musicum», erklärt Frey.

Nun ruft der Deepfake-Bach, nachdem er sich vom Porträtmaler ab- und seiner Kompositionsarbeit zugewandt hat, dazu auf, doch die Bachwochen Thun zu besuchen: «Doch Ihnen, hochgeehrde Liebhaber mein’r Music, sei diese Bitte gnäädch anbefohlen: Der Aufführung des gefälligen Collegium Musicum Bachwochen Thun zu assischdier ́n und mir sodann Ihre geschätzte Nachricht darüber freindlichst zu ertheile!»

Grosses Interesse an Bach im asiatischen Raum

In erster Linie dient das Video als Werbemittel für die diesjährige Ausgabe der Bachwochen auf den digitalen Plattformen und Kanälen des Festivals. Doch Vital Frey hofft auf eine virale Verbreitung des Clips. Potenzial sieht er insbesondere im asiatischen Raum, etwa in China oder Japan, wo ein grosses Interesse an Bach und an künstlicher Intelligenz besteht.

Bleibt schliesslich die Frage, ob sich der ganze Aufwand gelohnt hat. «Wir haben nun einen grossen Aufwand geleistet und können davon zehren», sagt Frey. Die Bachwochen Thun sehen das Projekt auch als Investition in die Zukunft. «Wir könnten den 3D-Bach als Chatbot einsetzen. Oder vielleicht steht er irgendwann als Hologramm auf der Bühne und begrüsst das Publikum». Kein Deepfake, sondern ganz real und alles andere als synthetisch bleibt derweil der Kern der Bachwochen: die Musik.


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