In der politischen Auseinandersetzung seien Ehrverletzungsdelikte nur mit grosser Zurückhaltung anzunehmen, hielt die vorsitzende Richterin in der mündlichen Urteilsbegründung fest. Meinungsfreiheit bedinge auch die Bereitschaft, sich der öffentlichen und manchmal auch heftigen Kritik auszusetzen.
Für den unbefangenen Durchschnittsleser sei mit dem Begriff «Gaga-Rechtsextremist» nicht der Eindruck entstanden, dass der SVP-Nationalrat antidemokratisch oder gewaltbereit sei oder Sympathien für den Nationalsozialismus habe. Es habe sich um eine scharfe, zugespitzte Einordnung im politischen Spektrum gehandelt.
Glarner sieht sich als «Nazi» verunglimpft
Vor Gericht hatte Glarner, der auch Präsident der SVP Aargau ist, erklärt, dass er den Begriff nicht auf sich sitzen lassen könne. «Bei Rechtsextremist denkt man gleich an Nazi.» Er sei aber im demokratischen Lager daheim – ein Extremist befinde sich ausserhalb davon, sagte Glarner.
Mit der Extremismus-Aussage werde Glarner doch diffamiert, hielt auch dessen Verteidiger fest. Und der Staatsanwalt wies darauf hin, dass weder Politik noch Gesellschaft eine Ausbreitung des Extremismus von links oder rechts akzeptieren würden. Ein Extremist könnte gar nicht politisieren – der Druck zum Rücktritt wäre gross. «Die Gesellschaft stuft Glarner nicht als Extremist ein.»
Der Vorwurf, doch einer zu sein, sei zweifellos geeignet, den Ruf einer Person zu schädigen, hielten Verteidiger und Staatsanwalt fest. Und Glarner erwähnte, dass sich die Bezeichnung negativ auf sein Geschäfts- und Privatleben auswirke.
«Nicht beleidigt, nur eingeordnet»
Glarner sei kein Nazi, sagte Voigt vor Gericht. «Er ist aber auch kein normaler SVPler, sondern ein extremer SVPler.» Ein Extremist sei jemand, der seine Ziele mit Gewalt durchsetze. Und Glarner verwende immer wieder digitale Gewalt, indem er etwa Telefonnummern ihm nicht genehmer Personen im Internet veröffentliche und an den öffentlichen Pranger stelle.
Mit seinem Tweet habe er Glarner nicht beleidigt, brachte Voigt weiter vor. Er habe nur dessen politischen Ideen zu Grenzschliessungen für «gaga» gehalten, und den Politiker Glarner auf dem Links-Rechts-Schema eingeordnet.
Dessen Anwalt wies darauf hin, dass sich der Aargauer SVP-Nationalrat immer wieder abschätzig oder fremdenfeindlich über Personen oder Personengruppe äussere. «Voigt darf Glarner politisch dort verorten, wo er zu stehen scheint.»
Kein einstimmiger Gerichtsentscheid
Das Obergericht des Kantons Aargau kam am Ende zum selben Schluss. Die vorsitzende Richterin wies aber auch auf den Gesamtkontext hin. Der «Extremismus»-Tweet sei auf einen Zeitungsartikel über Glarners Forderungen und auf eine kritische Nachricht eines anderen Internetnutzers erfolgt, hielt sie fest. Der Begriff sei damit klar in Zusammenhang mit Glarners Rolle als Politiker verwendet worden.
Der Entscheid des Obergerichts fiel dabei aber nicht einstimmig. Eine Minderheit stufte den Tweet als strafbar ein, da von der Bezeichnung auch Glarners Ruf als ehrbarer Mensch betroffen sei.
Der frühere Online-Chef von «20 Minuten» und Mitgründer des Portals Watson hatte den SVP-Nationalrat im Dezember 2022 im Zusammenhang mit einer Diskussion über Grenzschliessungen auf der damaligen Plattform Twitter als «Gaga-Rechtsextremist» bezeichnet.
Die Staatsanwaltschaft Muri-Bremgarten verurteilte den früheren Journalisten zunächst per Strafbefehl wegen Beschimpfung und übler Nachrede zu einer bedingten Geldstrafe von 40 Tagessätzen à 200 Franken und einer Busse von 1000 Franken.
Das Bezirksgericht Bremgarten sprach Voigt jedoch im Februar 2024 frei. Die Bezeichnung sei zwar scharf, aber im politischen Kontext zulässig, befand das Gericht – wie nun auf Berufung der Staatsanwaltschaft und von Glarner auch das Obergericht. Glarner kündigte an, dass er das Urteil wohl vor Bundesgericht bringen werde. (sda/nil)