Frau Feldmeier, Sie sind in der Schweiz zur Symbolfigur für den ukrainischen Widerstand geworden. Wie fühlt man sich, wenn man von der «Krypto-Queen» plötzlich zur Widerstandskämpferin wird?
In meiner Arbeit und meinem täglichen Engagement hat sich wirklich einiges geändert. Natürlich liegt mein Fokus nach wie vor auf dem Unternehmen, aber die Abende und die Wochenenden sind jetzt der Hilfe für die Ukraine gewidmet. Passiert etwas derart Schlimmes und sind dabei so viele Menschen betroffen, auch meine Familie, erscheint alles andere klein und unbedeutend.
Ihr Vater ist Ukrainer und Ihre Mutter Russin.
Ja, mein Vater stammt aus der Ukraine, aber ich habe kaum Kontakt zu ihm, meine Mutter ist Russin. Ich bin in der Westukraine aufgewachsen, aber wir haben zu Hause Russisch gesprochen. Später, als die Ukraine unabhängig wurde und alle russischen Schulen in die Ukraine integriert wurden, habe ich die ukrainische Sprache gelernt. Irgendwie fühlte ich mich immer wie zwischen zwei Stühlen: Russisch ist meine Muttersprache, aber die Ukraine ist mein Land. Doch ich habe mich noch nie so sehr als Ukrainerin gefühlt wie heute. Das ist, glaube ich, nicht nur bei mir der Fall, sondern bei vielen, die sich früher immer wie zwischen zwei Welten fühlten. Selbst die russischen Ukrainer, die in der Ukraine leben, aber Russisch sprechen und sich als Russen fühlen, haben ihre Meinung seit dem Krieg geändert.
Wie sind Sie aufgewachsen?
Meine Mutter war Pianistin und arbeitete später in der Schule als Klavierlehrerin. Schon zu Zeiten der Sowjetunion war das Gehalt nicht sehr gross, und sie ging zusätzlich putzen. Da ich mit sieben Jahren nicht allein zu Hause bleiben konnte, half ich ihr jeweils zwei, drei Stunden am Abend. Wir hatten nicht viel, und es wurde auch nicht besser, als es Anfang der 1990er-Jahre zur grossen Inflation kam. Die Menschen, die beim Staat arbeiteten, erhielten ihr Salär erst mit einer Verspätung von drei bis sechs Monaten. Bei einer Inflation von 10 000 Prozent genügte das Geld, das man nach sechs Monaten bekam, gerade noch, um ein Stück Brot zu kaufen. Die Hungersnot konnte lediglich dadurch verhindert werden, dass manche ehemalige Kolchosen, also Kollektiv Landwirtschaftsgesellschaften, aufgelöst wurden und das Land aufgeteilt wurde. Jeder Haushalt bekam etwa 600 Quadratmeter Land, das bebaut werden durfte. Dadurch hatten wir zu essen. Die Ukraine ist heute noch die Kornkammer Europas. So haben wir damals überlebt, mit Putz- und Gartenarbeit. Für mich war es aber keine schwierige Zeit, denn irgendwie wusste ich es immer: Es wird besser, dies ist nicht meine Zukunft. Ich habe dann Möglichkeiten für Stipendien gesucht und sie in Deutschland gefunden. Ich bin dorthin gefahren, habe Deutsch gelernt und viel gearbeitet. So habe ich etwa die grossen Hallen am Oktoberfest geputzt, jede Nacht nach Betriebsschluss, oft mehrere Stunden. Viele Ukrainer und Russen sind so. Wir wissen, dass uns nichts geschenkt wird und man hart arbeiten muss, um irgendwie weiterzukommen. Ich weiss, dass diese Flüchtlingsströme auch Angst machen. Und gerade deshalb möchte ich betonen, dass Ukrainerinnen und Ukrainer sehr oft fleissige und bescheidene Menschen sind.
Haben Sie noch Verwandte in der Ukraine?
Ja, ich habe Verwandte und auch viele Freunde in der Ukraine. Meine Cousine, die Töchter meines Vaters, meine Tante und meine Grossmutter sind noch dort. Hierzulande denken viele, man könne einfach in den Westen fliehen. Doch das ist nicht so leicht. Viele ältere Menschen sind nicht mehr mobil, und in der Ukraine gibt es kein so gutes Gesundheitssystem wie in der Schweiz. Die Eltern werden in der Regel von ihren Kindern betreut und gepflegt. Das heisst: Wenn die Grosseltern nicht mobil sind, wie meine Grossmutter, die 91 Jahre alt ist, dann können auch die Kinder oder Enkelkinder nicht weg. In unserem Fall bedeutet dies: Meine Tante und deren Vater gehen nicht weg. Meine Cousine ist nun zwar geflüchtet, aber ihr zwanzigjähriger Sohn ist geblieben.
Download als PDF-Dokument