17.05.2018

Scheu René/Dezember 2017

SCHEU RENÉ, Ganz oben

Der 43-jährige René Scheu hat einen der begehrtesten und auch prestigeträchtigsten Jobs des deutschsprachigen Journalismus: Er ist Leiter des NZZ-Feuilletons. Gegenüber «persönlich» spricht er erstmals von seinen Visionen, dem Protestschreiben bekannter Intellektueller und seiner Haltung zur SRG.
Scheu René/Dezember 2017: SCHEU RENÉ, Ganz oben

Herr Scheu, Sie sind vor zwei Jahren im NZZ-Feuilleton, der Ruhmeshalle des Journalismus, als dessen Leiter angekommen …
… ich möchte kurz einhaken. Wer genau vertritt die zugegebenermassen schmeichelhafte Meinung, das Feuilleton sei die Ruhmeshalle des Journalismus?

Sehen Sie es nicht so?
Ich gebe gerne zu: Als zwanzigjähriger NZZ-Leser konnte ich mir nicht vorstellen, einmal das NZZ-Feuilleton zu leiten. Andererseits war es mein Bubentraum, einmal für die NZZ zu arbeiten. Eingeschüchtert war ich dennoch nicht, als ich meinen neuen Job antrat. Ganz im Gegenteil. Ich nutze den Freiraum, den mir meine Aufgabe gewährt. Die Arbeit bereitet mir noch mehr Spass, als ich ursprünglich dachte. Wir sind ein starkes Team mit einem exquisiten Autorennetzwerk, wir können Themen setzen, Institutionen begleiten, Debatten lancieren – richtig was bewegen.

Jetzt gibt es auch Kritik und Proteste gegen Ihre Arbeit. Ist dies nicht ein bisschen ein Kälteschock?
Ich höre, dass man intensiv über das Feuilleton spricht, bei Premieren im Theater, beim Abendessen mit Freunden, an Vernissagen und sogar in den Konkurrenzmedien bis hoch hinauf in den Norden. Das ist kein Kälteschock, das ist vielmehr Ergebnis harter Arbeit an Themen und Texten. Was könnte ich mir mehr wünschen?

Sie waren vorher Verleger des Schweizer Monats. Brauchte es viel Überzeugungs­arbeit, Sie zur NZZ zu holen?
Ich war offen für etwas Neues – und ich fühlte mich auch sonst bereit. Deswegen habe ich nicht lange überlegt, als mir Eric Gujer das Angebot unterbreitete, obwohl die neue Aufgabe einen Wechsel zurück ins Angestelltendasein bedeutete. Die gute Nachricht ist aber: Zur Kultur des NZZ-Hauses gehört es, den Ressorts und den Redaktoren eine enorme Autonomie zu lassen. Das Feuilleton seinerseits ist das Orchideengebiet par excellence: Es gibt keinen Stoff, der nicht zu einem Feuilleton taugte. Was uns unterscheidet, sind neben der klassischen Kultur­berichterstattung die Sprache, der Stil, der Ton, der Themenzugang. Wir wollen der angesagte Umschlagplatz für das intellektuelle Leben in der Schweiz und darüber hinaus sein. Und wenn ich auf die Zahlen schaue, scheint es so, als würde uns dies nicht schlecht ­gelingen.

Auch der Chefredaktor redet Ihnen nicht rein?
Nein. Eric Gujer verantwortet zwar die publizistische Linie, die er mit seinen Leitartikeln unterstreicht, lässt uns aber viel Spielraum. Bekanntlich ist jedes Ressort der NZZ in unmittelbarer Nähe zu Gott. Nein, im Ernst: Wir diskutieren die Themen innerhalb unseres Ressorts – alle bringen sich mit ihren Ideen und Stoffen ein, wir leben einen grossen Binnenpluralismus. Das ist die Stärke des Feuilletons – und jedes Ressorts der Zeitung.

Sie hatten mit Martin Meyer einen prägnanten Vorgänger. Haben Sie sich mit ihm abgesprochen?
Ich habe mit Martin Meyer im Vorfeld einige Male gesprochen. Dabei erzählte er mir, ­welche Überlegungen ihn leiteten, als er während zwanzig Jahren die Geschicke des Kultur­teils bestimmte. Das hat mir geholfen. Ansonsten aber ist klar: Er machte sein Ding, ich mache mein Ding. Dabei haben wir eins ganz sicher gemeinsam: Er veranstaltete ein hervorragendes Feuilleton zu seiner Zeit, und mein Anspruch ist es ebenfalls, ein hervorragendes zeitgemässes Feuilleton zu veranstalten.

Wie «anders» ist dieses Feuilleton?
Das fragen Sie mich? Sie sind der Leser, sagen Sie es mir.

Ihr Feuilleton ist politischer und weniger akademisch als dasjenige Ihrer Vorgänger. Zudem gibt es auch mehr Thesenjournalismus.
Unter meinen Vorvorgängern Werner Weber und Hanno Helbling war das Feuilleton zweifellos in erster Linie dem Schönen, Wahren und Guten zugewandt. Martin Meyer hat, auch in eigenen Essays, die feuilletonistische Reflexion sozusagen politisch aufgeladen. Das dünkt mich wichtig – Stellenwert und Bedeutung des Feuilletons haben sich in den letzten Jahren grundlegend geändert. Für mich ist das Feuilleton ein Ort des grosszügigen Denkens und der Fortschreibung des Kanons gleichermassen, wir betreiben Zeitdiagnostik und Traditionspflege. Einerseits mischen wir uns ein, andererseits machen wir einen Schritt zurück. Doch es kann auch einer nach vorne sein. Wir sind schnell und wach, wir sind aber auch ruhig und auf Langlebigkeit bedacht. Wir bewegen uns stets in diesem Spannungsfeld, und das sorgt für die nötige Spannung in uns selbst.

Und warum braucht es den ganzen Thesenjournalismus?
Ich kann diesem Begriff etwas abgewinnen, allerdings in einem präzisen Sinn: Man begründet eine These sorgfältig und stellt sie zur Disposition oder zur Debatte. Das ist die Aufgabe jener, die sich dem angewandten Denken verpflichtet fühlen. Wir tun dies in vielen Bereichen: Silicon Valley und Digitalisierung, Islam und Aufklärung, Political Correctness, Gender. Wir sitzen eben nicht auf dem hohen Ross und wissen immer alles schon besser. Zusammen mit unseren Autoren reiben wir uns an der Gegenwart, um sie besser zu verstehen.
 
Aber ist dieses Verfahren wirklich neu?
Nein, es ist klassisch dialektisch, Erkenntnisgewinnung in actu. Der Vorteil: Der Kitzel ist enorm. Das Risiko: Es kann unbequem werden. Aber nur so ist Erkenntnisgewinn möglich.
 
Hin und wieder schiessen Sie dabei bewusst über das Ziel hinaus?
Aus meiner Sicht nicht. Aber es gibt einzelne Leser, die dies anders sehen (lacht).
 
Sie haben vor einem Jahr im Feuilleton Verständnis für die Wahl von Donald Trump geäussert.
Falsch! Die primäre Aufgabe eines Journalisten besteht darin, ein Phänomen zu verstehen – und ich denke, gerade das Phänomen Trump verdient einen besonderen Effort. So wie Sie die Frage stellen, bewegen wir uns bereits in dieser ganzen Freund-Feind-Rhetorik. Im Grunde ist das schon keine publizistische Perspektive mehr, sondern eine pädagogische …
 
Jetzt werden Sie gar philosophisch …
… was meiner Ausbildung entspricht. Ich erkläre mich. Viele Journalisten glauben an die performative Kraft des Sprechens und Schreibens: Wenn ich schlecht über etwas Gutes oder gut über etwas Schlechtes schreibe, dann leiste ich meinen persönlichen Beitrag zur Verschlechterung statt zur Verbesserung der Welt. Für das Gute oder Schlechte kann jeder einsetzen, was er mag: die Willkommenskultur, den Veganismus, Trump, Clinton, den Nationalstaat, 1968. Ich habe ein vollkommen anderes Berufsverständnis. Da vor einem Jahr die meisten Journalisten, Intellektuellen und Meinungsforscher nicht mit Trumps Wahlsieg gerechnet hatten, versuchte ich Trump als Symptom zu beschreiben. Ausschlaggebend war für mich dabei die Aussage des amerikanischen Starökonomen Paul Krugman, der nach Trumps Wahl meinte, dass er in einem Land lebe, das ihm vollkommen unbekannt sei. Gleichzeitig nahm er für sich in Anspruch, aufs Genaueste zu wissen, wie der Trump-Wähler tickt. Und ich fragte mich – könnte diese Widersprüchlichkeit nicht typisch für viele amerikanische Intellektuelle sein?

Daraufhin gab es böse Reaktionen.
Ja, klar, wer in einer intellektuellen Zeitung die Intellektuellen herausfordert, muss damit rechnen. Aber die meisten geharnischten Reaktionen kamen von Kollegen. Die Leserreaktionen waren fast durchgängig positiv. Wenn man nicht ohne Schaum vor dem Mund über Trump schreiben kann, ist dies ein Armutszeugnis für die Vertreter einer Berufsgattung, die sich einbilden, frei zu denken. Für mich sollte das Feuilleton jener Ort sein, in dem die wichtigen und richtigen Debatten geführt werden, und zwar mit offenem Visier.

Das tönt schon nach Roger Köppel …
Schon wieder so ein Vergleich! Sind Journalisten erst zufrieden, wenn sie Leute schubladisieren können? Die Wahrheit ist: Köppel ist Köppel, Scheu ist Scheu, Ackeret ist Ackeret.

Nun, der Tages-Anzeiger hat der NZZ vorgeworfen, dass sie mit ihrer Berichterstattung – und damit meint er auch das Feuilleton – auf die deutsche Leserschaft schiele und deswegen von AfD-Wählern geschätzt werde.
Erstens: Klar zielt die NZZ auf den deutschen Markt. Zweitens: Der von Ihnen zitierte Tagi-Artikel ist diffamatorischer Journalismus für Journalisten vom Feinsten. Die beiden Verfasser definieren den Begriff «rechts» mit keinem Wort, sondern benutzen ihn in raunendem Ton. Und sie verfahren nach der Kindergartenlogik: Wenn Texte von AfD-Leuten gelikt und gelesen werden, dann folgt daraus, dass die Texte für AfD-Leser geschrieben wurden – ergo muss dies auch die publizistische Strategie sein. Ich bitte Sie – wer so argumentiert, unterfordert die Intelligenz der Zeitungsleser. Und ich sage es gerne nochmals: Wer Publizistik als Pädagogik begreift und dabei die Leser nicht nur bevormundet, sondern notorisch unterschätzt, macht sich auf die Dauer selbst überflüssig.

Aber man hatte während des deutschen Wahlkampfes den Eindruck, dass man in der NZZ gerade bezüglich Merkels Flüchtlingspolitik Artikel lesen konnte, die so pointiert in deutschen Publikationen nicht möglich gewesen wären. Ich denke an einen Artikel des ehemaligen Bild-Chefredaktors Hans-Hermann Tiedje, in dem er der Bundeskanzlerin vorwarf, dass in Deutschland mit Angst regiert werde.
Das war während des Wahlkampfs der Fall. Aber mittlerweile kritisieren auch deutsche Mainstreammedien – und Angela Merkel selbst – die einstige Willkommenskultur. Das ist Opportunismus pur – und erst noch live!

Aber warum war die Merkel-Kritik in den deutschen Medien so verpönt?
Ich schätze, dass viele Medien den Ernst der Lage begriffen, als im September 2015 Hunderttausende Flüchtlinge mitten in Europa unterwegs waren – ohne Ort und Heimat. Die Lage war explosiv. Viele Journalisten fürchteten wohl, durch eine Kritik am Vorgehen der Bundeskanzlerin eine Art Bürgerkrieg auszulösen. Dabei blendeten sie aus mutmasslicher Einsicht in den höheren Zweck aus, dass Merkels Vorgehen rechts- und sozialstaatlich höchst problematisch war. Viele deutsche Journalisten sahen sich als verlängerten Arm der Regierung und schnitten alle, die es wagten, die Willkommenskultur in welcher Weise auch immer zu kritisieren.

Wie weit können Sie mit Gegenthesen gehen – beispielsweise bei Themenfeldern wie der aktuellen Weinstein-Debatte über sexuelle Belästigung?
Ich suche nicht die Gegenthese – Provokation ist kein Selbstzweck. Im von Ihnen erwähnten Fall haben wir eine gemässigte Position vertreten: Wir haben die Übergriffe durch Männer verurteilt, da gibt es überhaupt nichts schönzureden. Gleichzeitig haben wir die Heuchelei aufs Korn genommen, die gerade in Hollywood endemisch ist.

Sie haben in den letzten Jahren das Feuilleton radikal umgebaut und auch Mitarbeiter entlassen. War dies notwendig?
Wenn die Führung eines Bereichs ändert, kommt es in jedem Unternehmen zu personellen Rochaden, das ist völlig normal. Zugleich hat sich der Beruf des Feuilletonisten in den letzten Jahren stark gewandelt. Auch heute kann ein Feuilletonist ein bunter Vogel sein. Aber darüber hinaus ist er ein geistiger Hochleistungssportler, der nicht nur gut und vergleichsweise öfters schreiben und klar denken, sondern auch die technischen Programme beherrschen muss. Wir müssen ein Team sein, das die alten mit den neuen Tugenden vereinen kann. Es braucht einen guten Mix von Menschen unterschiedlichen Alters, mit divergierenden, aber sich ergänzenden Fähigkeiten und Auffassungen. Im Falle der NZZ fühlt sich jeder berufen mitzureden, selbst Leute, die unsere Zeitung gar nicht abonniert haben oder regelmässig lesen. Das kann manchmal ganz schön anstrengend sein. Gleichzeitig ist es sehr schön, weil es die Bedeutung und das Gewicht zeigt, das unsere Zeitung in den vergangenen
237 Jahren erlangt hat.

Sie sprechen den offenen Brief der siebzig Akademiker an, die sich gegen die Entlassung des langjährigen Feuilletonredaktors Uwe Justus Wenzel wehrten und von einer «Ohrfeige für alle intellektuellen und geisteswissenschaftlich interessierten Leser und Leserinnen» schrieben.
Nein, diesen Brief, der gar nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war, sprechen nun Sie an. Die NZZ ist eine Institution. Daher rührt auch die Sorge um sie. Jeder Kritiker hat seine eigene Vorstellung von der richtigen NZZ. Ich sehe meine Aufgabe darin, ein erstklassiges Feuilleton für all jene zu machen, die Freude am Denken, Debattieren, Lesen, Sehen und Hören haben.

Aber trotzdem, waren diese Entlassungen notwendig?
Was heisst «notwendig»? Ihre Frage dünkt mich seltsam. Ich treffe wohlüberlegte personelle und strategische Entscheidungen, das ist Teil meiner Aufgabe als Feuilleton-Chef.

Die Kündigung des 58-jährigen Redaktors Uwe Justus Wenzel schlug unüblich hohe Wellen, auch über die Branche hinaus.
Sie werden von mir kein schlechtes Wort über einen früheren oder amtierenden Mitarbeiter hören. Viele gebildete Menschen haben einen Hang zu Verschwörungstheorien. Sie lassen sich nicht entkräften – sie passen den Kollegen so schön in den Kram.

Kein orchestrierter Rechtsrutsch?
Natürlich nicht. Wir sind bei der NZZ am Ende des Tages eine ziemlich heterogene Truppe. Die Entlassungen, die Sie ansprechen, hatten keine ideologischen oder persönlichen Gründe. Jede personelle Veränderung hat ihren je eigenen Hintergrund.

Sie wollten nur Ihre eigene Truppe für das Feuilleton zusammenstellen ...
Ich arbeite gerne mit einem Team zusammen, das auch als Team funktioniert.

Flexibilität und Geschwindigkeit sind für
Sie wichtige Eigenschaften, die ein Feuilleton­redaktor mitbringen muss.
Das sind nur zwei von vielen Fähigkeiten. Ein Feuilletonist muss auch über Souplesse und Esprit im Schreiben verfügen und eigene originelle Themenzugänge entwickeln. Aber es ist klar, die Geschwindigkeit wird immer wichtiger, weil Debatten heute viel schneller aufkommen und wieder gehen als früher. Dies wirkt sich auch auf die Produktionszeit aus.

Damit sprechen Sie vor allem jüngere Journalisten an.
Nicht nur. Es wäre ein Kurzschluss zu glauben, dass die jüngeren Journalisten das Internet per se besser beherrschten als die älteren. Es gehört einfach zum Anforderungsprofil, diese Entwicklungen zur Kenntnis zu nehmen und sich auch auf sie einzulassen. Die Zeiten, in denen ein Feuilletonist fünf Tage in Klausur gehen konnte, um einen guten Text zu schreiben, sind definitiv vorbei. Glauben Sie mir: Obwohl ich von meinem Büro aus einen schönen Blick auf den Zürichsee und das Bellevue habe, schaue ich selten hinaus. Sobald ich im Stollen angelangt bin, wird geackert. Abends falle ich todmüde, doch zufrieden ins Bett.

Aber nochmals, nehmen Sie das Schreiben der siebzig Akademiker, die sich über den Zustand der NZZ Sorgen machen, ernst?
Selbstverständlich nehme ich dieses Schreiben sehr ernst, auch wenn die Aussensicht notgedrungen zahlreiche Lücken aufweisen muss. Eric Gujer und ich haben den Autoren in einem mehrseitigen Brief geantwortet und sind auf alle Punkte eingegangen.

Was haben Sie den Kritikern gesagt?
Wir haben in unserer Antwort die Weltwoche zitiert, die uns bezüglich unserer Haltung zur EU stark kritisierte und uns einen Linksrutsch vorwarf, während die WOZ fast gleichzeitig auf zwei Seiten einen Rechtsrutsch diagnostizierte. Wird man so gegensätzlich wahrgenommen, kann unser Kurs nicht ganz falsch sein. Gleichzeitig haben wir unsere Kritiker eingeladen, sich künftig wieder verstärkt als Gastautoren für unsere Zeitung zu betätigen und sich mit Anregungen und Vorschlägen bei uns zu melden.

Haben Sie denn ein Vorbild für Ihr Feuilleton?
Es ist immer gefährlich, wenn man sich mit anderen vergleicht. Man kann nur verlieren. Aber Sie fordern mich heraus. Der grösste Tausendsassa, den das Feuilleton in jüngerer Vergangenheit kannte, war der vor drei Jahren verstorbene Frank Schirrmacher. Aber ich weiss noch, wie ich damals selbst reagierte: Als Intellektueller war man um die Jahrtausendwende gezwungen, dessen FAZ-Feuilleton zu lesen. Schirrmacher war technophil, er war radikal, er war enthusiastisch, er war unerbittlich, aber er war auch bereit, seine Meinung zu ändern. Ein echter Contrarian, der sich auch selbst dauernd überraschte! Von Schirrmacher habe ich viel gelernt.

Was beispielsweise?
Themen selber zu setzen, unerschrocken. An ihnen dranzubleiben, sie weiterzutreiben, sie dialektisch zu verhandeln. Das bedeutet, dass man ein Thema nicht nur ein- oder zweimal aufgreift, sondern sich immer wieder darauf fokussiert. Schirrmacher hat dies mit Themenkomplexen wie dem Alter, der Technik oder der Zukunft des Kapitalismus vorgemacht. Gleichzeitig war er unerschrocken und hat Widerspruch als Zuspruch begriffen.

Wie viele Leute arbeiten heute bei Ihnen im Feuilleton?
Unser Kernteam beschäftigt rund ein Dutzend Mitarbeiter, darüber hinaus pflegen wir ein weitverzweigtes Netz von freien Mitarbeitern und Autoren.
Ohne Auslandskorrespondenten?
Dies war eine Erfindung aus der glorreichen Zeit des Journalismus Ende der Neunzigerjahre. Mittlerweile haben sich die Zeiten komplett geändert. Wir müssen uns genau überlegen, wie wir unsere Ressourcen einsetzen. Anstelle des fixen Auslandskorrespondentennetzes setzen wir im Feuilleton heute auf freie Mitarbeiter und Honoristen. Gesamthaft gesehen, ist die Redaktion der NZZ in den letzten Jahren nicht ab-, sondern ausgebaut worden.

Der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss hat in seinem berühmt-berüchtigten Artikel «Die Schweiz ist des Wahnsinns» in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Ihre Ernennung zum Feuilleton-Chef vor zwei Jahren hart kritisiert. Hat Sie dies geschmerzt?
Natürlich liess mich die Aktion nicht kalt, aber ich nehme solche Anwürfe immer sportlich. Ich verbrachte gerade ein paar ruhige Tage mit der Grossfamilie auf Sardinien. Und plötzlich gings los. Während eines Mittagessens im Restaurant Fradis Minoris, in einer Lagune in Pula gelegen, habe ich mich an einem heiteren Freitag entschieden, Paroli zu bieten. Bärfuss verbreitete Fake News, die ich so nicht stehen lassen konnte, auch wenn sie wohlformuliert daherkamen. Ich verfasste einen Brief an Bärfuss, der am Montag darauf in der NZZ erschien.

Sie sind über Ihr Philosophiestudium in den Journalismus gekommen.
Nicht ganz, ich habe meinen ersten journalistischen Text bereits während des Studiums für die NZZ verfasst.

Für Sie gab es in Ihrem Leben nur die NZZ.
In unserem Haushalt war die NZZ nicht die einzige, aber stets die erste Adresse. Als Autor sieht die Sache ein wenig anders aus: Ich habe zuerst für die NZZ geschrieben, dann für den Kulturbund des Tagi unter Guido Kalberer. Nach dem Studium habe ich während eines Jahres bei der Zuger Presse ge­arbeitet, die dem rot-grünen Zuger Lokal­politiker und Landis&Gyr-Erben Daniel Brunner gehörte. Diesen Schritt habe ich ganz bewusst gemacht, um dort das journalistische Handwerk zu erlernen. Später bin ich zum St. Galler Tagblatt gewechselt. Es war aber keineswegs so, dass Journalismus schon immer mein Berufswunsch gewesen wäre, während des Studiums war ich völlig ergebnisoffen. In St. Gallen hat mir Gottlieb F. Höpli sehr viel beigebracht. Dabei lernte ich auch Robert Nef kennen, den Leiter des Liberalen Instituts, und vor allem den ehe­ma-ligen Banker Konrad Hummler, der einen Nachfolger Nefs als Herausgeber des Schweizer Monats suchte.

Wie sind Sie dann NZZ-Feuilleton-Chef geworden?
Eric Gujer hat mich angefragt. Ich hatte während einiger Jahre eine wöchentliche Kolumne in der NZZ am Sonntag, in der ich Carte blanche hatte. Ich schrieb über alles Mögliche, von Prostitution über direkte Demokratie und EU bis hin zum Papst. Thomas Isler betreute die Kolumnen, und er wollte jemanden, der pointiert schreibt: Genau das war mein Ding. Ich schreibe heute wohl noch einen Tick zugespitzter als früher.

Gab es für Sie ein journalistisches Schlüsselerlebnis?
Nein. Die Arbeit am eigenen Stil ist eine Daueraufgabe.

Vor drei Jahren wurde die NZZ wegen der Fastnominierung von Markus Somm zum neuen Chefredaktor durchgeschüttelt. Ist  heute noch etwas von diesen Ereignissen zu spüren?
Das ist Schnee von gestern.

Sie haben vor zwei Jahren im NZZ-Verlag ein Buch mit dem Titel «Weniger Staat, mehr Fernsehen. Service sans public? – Die neue Debatte um die SRG» herausgegeben. Angesichts der No-Billag-Abstimmung ist dieses Buch brandaktuell. Wie werden Sie am 4. März abstimmen – und warum?
Wenn Sie das Buch gelesen haben, sollten Sie sich denken können, wie ich stimmen werde.

Was liest eigentlich ein NZZ-Feuilleton-Chef, wenn er abends ins Bett geht?
Er praktiziert die Kunst der kunterbunten Lektüre. Zurzeit gehören zu den Autoren Didier Eribon, Christopher Lasch, Jonas ­Lüscher und Wolfgang Sofsky.


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