Herr Held, im Tages-Anzeiger hat Chefredaktor Res Strehle Karl Marx als Visionär gefeiert. Findet man in der momentanen Krise wirklich Hilfe bei Karl Marx?
Nein, so etwas wäre wirklich sinnlos.Weder die Globalisierung noch die Digitalisierung konnten im 19. Jahrhundert gedacht werden. Aber Ihr Eindruck stimmt, dass momentan die alten Schriften wieder hoch im Kurs stehen, ein Gottesdienst um die alten Theoretiker wie Marx, aber auf der anderen Seite auch liberale Vordenker wie Friedrich August von Hayek. Dies zeigt den extremen Grad der Verunsicherung. Das liberale Credo, welches das Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft regelte, hat durch die Rettungsmassnahmen für den Finanzsektor und die fast andauernde Stimulierung viel von seiner Relevanz verloren. Man hat in den letzten drei Jahren zu wenig registriert, dass sich die Welt mit der Finanzkrise von 2008 grundlegend verändert hat, dass es nicht nur um einen Konjunktureinbruch ging. Wir können nicht mehr «business as usual» zelebrieren.
Warum ist kein «business as usual» mehr möglich?
Die enorme Verschuldung vieler Länder verunmöglicht die Rückkehr zur Normalität. Die staatlichen Eingriffe zur Rettung der Volkswirtschaften bewirkten 2008 eine Verschiebung der Machtverhältnisse, gleichzeitig übernahmen sich die schon verschuldeten Länder endgültig. In vielen westlichen Ländern, in den USA, aber auch in Europa, gibt es heute keine freie Marktwirtschaft im liberalen Sinn mehr, sondern eine Art Staatskapitalismus. Als kurz nach der Finanzkrise, also 2009 und 2010, ein leichter Aufschwung einsetzte, glaubte man bereits wieder, dass alles in den gewohnten Bahnen verlaufe. Doch dies war trügerisch. Bei Avenir Suisse hat man bereits vor drei Jahren auf die enormen Schuldenberge hingewiesen, und wir waren uns bewusst, dass es irgendwann zum Knall kommen würde.
Bereits vor zehn Jahren, also am 11. September, hat man von einer Zeitenwende gesprochen
Aber im Gegensatz zu heute wurde nach den Anschlägen des 11. September 2001 die Funktionsfähigkeit der Marktwirtschaft und des Kapitalismus von niemandem infrage gestellt. Jetzt haben sich die Machtverhältnisse aber grundlegend geändert: die finanzstarken Länder sind heute China und andere autokratische Regimes, während der freie Westen zu den Schuldnern gehört. Trotzdem ist die Verbindung zum 11. September nicht ganz falsch. Nach den Anschlägen auf das World Trade Center hat die amerikanische Regierung die Politik des billigen Geldes eingeführt, indem sie nach jeder Krise Geld in die Wirtschaft hineinpumpte, um die Aktienkurse hoch zu halten. Jetzt zeigt sich, dass diese Politik äusserst verhängnisvoll war. Auch die Kriege, die im Anschluss an den 11. September geführt wurden und teilweise geführt werden mussten, trugen zur Schuldenexplosion bei.
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