Michael Conrad, Sie sind einer der erfolgreichsten Werber überhaupt. Was denken Sie über die heutige Werbung?
Grossartige Werbung, gute Werbung und schlechte Werbung hat es eigentlich immer gegeben. Die grossartige – kreative, also von der Norm abweichende – Werbung macht vielleicht drei Prozent des gesamten Volumens aus. 85 Prozent der Werbung, mehr die Norm, ist klischierte Werbung, die vor allem dazu dient, Produkte zu bewerben und ihren Absatz zu fördern – ohne viel Phantasie. Mein Eindruck ist, dass es von verrückter Werbung, also verrückt von der Norm und deshalb kreativ, momentan ein bisschen wenig gibt.
Unter drei Prozent?
Ja, das würde ich sagen. Man sieht jedenfalls zu wenig davon, und das ist für unsere Branche nicht gut. Doch es gibt Ausnahmen, die die Regel bestätigen, beispielsweise das riesige Werbebanner, das Jung von Matt für den Autoverleiher Sixt gestaltet hat und das kürzlich am Hamburger Elbtower, einer von Benkos Bauruinen, hing. Darauf zu lesen: «Damit Ihnen nicht das Geld ausgeht. Der BMW i5 für 59 €/Tag bei Sixt.» Wieder mal voll im «gedankenprovozierenden» Stil des nun jahrzehntelangen Kampagnenauftritts. Oder das nun 100. Motiv der «Kluge-Köpfe-Kampagne» zum Holocaust-Gedenktag mit der Zeitzeugin Margot Friedländer. Anzeigen, die oft monatelange Vorbereitung erfordern. Oder wenn Roger Federer Robert De Niro im Schweiz-Tourismus-Video zu überzeugen versucht, mit ihm einen Werbespot für die Schweiz zu drehen, doch De Niro mit «No drama, Roger» ablehnt und empfiehlt, «Hanks» zu fragen.
Aber das sind ja die Ausnahmen …
Ja, die für die Branche wichtigen kreativen Ausnahmen. Grundsätzlich geht es bei der Werbung darum, eine Marke über eine gewisse Zeit aufzubauen und ihre Produkte an den Mann oder die Frau zu bringen und auch zu verkaufen. Damit man sich auch eine Vorstellung von einer Marke machen kann, die von einer psychografischen Zielgruppe geliebt wird, sollte das Ganze so eng fokussiert werden, dass die Message auf ein einzelnes Wort heruntergedampft ist. Schliesslich ist es gerade dieses eine Wort, das die Firma und deren Marke führt. Heute fehlt in Agenturen mehr und mehr ein zusammenhängendes Wissen über Marketing, Consulting, Branding oder Design. Früher waren Werbeagenturen kompletter aufgestellt. Sie lieferten Marketing, das integrierten dann die Werbungtreibenden. Durch die Abspaltung der Media veränderte sich beispielsweise der ganze Geldfluss. Heute werden Agenturen für ihre Kreativleistungen meistens nach Stunden oder Projekten honoriert. Nach dem Aufkommen neuer Kommunikationstechnologien und Plattformen wie Facebook oder Google wanderten viele talentierte Leute ab, was die Werbebranche schwächt. Andererseits zeigt sich aber, dass gerade immer wieder Agenturen von Kreativen gegründet oder stark geführt werden, deren Fokus sich auf die drei Prozent kreativer Werbung richtet. Jung von Matt, HeimatTBWA in Deutschland, Jung von Matt Zürich, thjnk, natürlich Ruf Lanz, Wirz, die das Schweiz-Tourismus-Video in der Pandemiezeit gestaltet und realisiert hat – das kreative Leadership, das diese Agenturen auszeichnet, fördert auch umfassendes Denken.
Welches war für Sie das prägnanteste Beispiel, das diese These unterstreicht?
Nehmen wir mal das hier. Vor zwanzig Jahren war McDonald’s aus verschiedenen Gründen unter medialem Dauerbeschuss, so dass die Geschäftsleitung international tätige Werbeagenturen aufforderte, eine Kampagne zu entwickeln, in welcher einzelne Vorwürfe wie schlechtes Essen oder schmutziges Ambiente gekontert werden. Norbert Herold, der Kreativchef der Münchner Kreativagentur Heye, erzählte mir, dass er damals das Briefing durchgelesen und sofort gedacht habe: «Das ist der falsche Ansatz.» Die Shitstormer mundtot zu machen, ist die falsche Strategie. Die Menschen, die nach wie vor gerne zu McDonald’s gehen, die muss man einfach bestätigen. Er offerierte den strategischen Slogan «I’m lovin’ it», der nun seit
22 Jahren läuft. Weltweit. Für diese Kreativleistung berechnete die Agentur lediglich acht Stunden Arbeit. Was zweierlei zeigt: Wahre Kreativleistungen werden zum einen oftmals ungenügend bezahlt, zum andern braucht es für einen solchen Wurf neben Talent auch Erfahrung. Norbert Herold beispielsweise war über dreissig Jahre in der Werbung tätig. Ich könnte noch viele weitere Beispiele nennen, bei denen die Agentur das Briefing zum Guten änderte.
Was ist denn Ihre Kritik an der heutigen Werbung?
Ich glaube, viele Werber haben das grosse Ganze nicht mehr im Blick. Man haut Videos in den sozialen Medien raus und versucht dabei, ein bisschen verrückt zu sein. In den sozialen Medien flackert eine Werbung jeweils wenige Sekunden auf, bis man sie endlich wegdrücken kann. Das kann doch nicht im Sinne des Auftraggebers sein. So hat Procter & Gamble als einer der grössten Auftraggeber weltweit vor einigen Jahren um die 200 Millionen Dollar für Online-Werbung gestrichen, wovon, so denke ich, klassische Medien profitieren. Das sollte Schule machen.
Was war das Resultat?
Es hatte sicher keine negativen Auswirkungen auf das Geschäftsergebnis. Vor etwa einem Jahr berichtete P&G über Preiserhöhungen im Zehn-Prozent-Bereich, was dem Umsatz seiner Marken überhaupt nicht geschadet hat. Ich frage mich oftmals: Warum wird nicht mehr in Zeitungen geworben? Das Beispiel der deutschen Wochenzeitung «Die Zeit» beweist doch, dass diese nicht immer noch, sondern immer mehr gelesen wird. Die Zahl der Abonnements ist seit 2010 von 400 000 auf über 600 000 gestiegen, und wöchentlich konsumieren etwa zwei Millionen Leserinnen und Leser Die Zeit. Und warum ist dies so? Qualitätsjournalismus! Seit 2010 hat sich die Redaktion vervierfacht. Unter brillanter Leitung. Qualitätsmarken sollten auf Qualitätsmedien setzen und nicht einfach auf Masse, auf Reichweite zielen. Es geht schlussendlich um psychografische und nicht um demografische Zielgruppen, die Marken gross machen, manche zu Ikonen.
Vor zwanzig Jahren gab es weniger politische Korrektheit …
Es gab schon früher Humor, der unter der Gürtellinie war. Aber es zeigt sich, dass man eine Marke nicht mit gesellschaftlich unerwünschten Kriterien gross machen kann. Auch Werbung sollte sich nach ethischen Standards verhalten. Wir hatten bei Leo Burnett einen (einzigen) Fall, als eine unserer weltweit neunzig Agenturen eine lokale Werbung schaltete, die von der «New York Times» als «unmenschlich» kritisiert wurde. Die Redaktion rief sofort den Auftraggeber an, sprach mit dem CEO, der fragte nach der Agentur – und feuerte uns. Weltweit. Als oberster Kreativchef habe ich mir später den Spot angesehen und musste den Kritikern recht geben. Man hatte sich über Körperliches am Menschen lustig gemacht.
«Selbstverständlich habe ich Verständnis für die Werbeverbote»
Sie haben in Ihren Agenturen den Marlboro-Mann kreiert, der mittlerweile verboten ist. Was halten Sie von Werbeverboten?
Ich habe den Marlboro-Mann nicht kreiert. Das geschah 1954. Ich habe über zwei Jahrzehnte geholfen, ihn fest im Sattel zu halten. Wenn etwas verboten ist, stellt es auch kein Problem mehr dar, da es verboten ist. Das heisst aber nicht, dass dies auch gut sein muss. Aber schliesslich ist ein Verbot ein Verbot, und dies gilt es zu beachten. Mit dem Verbot der Zigarettenwerbung will man Jugendliche vom Rauchen abhalten, das erachte ich eigentlich als positiv. Ich habe früher täglich auch zwei Pakete geraucht – zwei, drei Zigaretten hätten es auch getan. Was mich hingegen stört, ist die Radikalität, mit der die Werbeverbote eingeführt werden. Als Nächstes haben die Gesetzeshüter Süssgetränke wie Red Bull im Visier. Übrigens: Dessen Slogan «Red Bull verleiht Flügel» ist Ende der 1990er-Jahre bei Kastner & Partners in Frankfurt entstanden, einer Zweitagentur von Michael Conrad und Leo Burnett, die sich auf Konkurrenzprodukte fokussierte. «Verleiht Flügel» ist übrigens, wie gerade kurz besprochen, eine Einwortpositionierung für den Energydrink: «beflügelt». Wie auch bei Marlboro: «männlich». 1954 fanden Männer in den USA Filterzigaretten feminin. Also dachte man, mit einer klaren Strategie und den richtigen Männern «on board» könne das geändert werden.
Aber haben Sie Verständnis für die Werbeverbote?
Selbstverständlich habe ich Verständnis für die Werbeverbote. Und wenn man sich daran hält, sage ich mal mit Schmunzeln, kann man Erfolg haben. Nehmen Sie nur die Benson-&-Hedges-Werbung der 1980er-Jahre, bei der jedes Motiv ein «magrittsches» Kunstwerk darstellte. Eine B&H-Schachtel, golden zwischen den Pyramiden. Werbeverbote nehmen den Menschen etwas weg, oder aber sie verstärken die Attraktivität. Dient eine Einschränkung der Werbung aber der Gesundheit der Menschen und schützt sie ihn vor Krankheiten, so ist sie gerechtfertigt. Verbote können auch mal aufgehoben werden: Cannabislegalisierung in der BRD.
Das ausführliche Interview lesen Sie in der aktuellen Printausgabe von persönlich.