29.10.2024

Wirz

«Wir mussten uns füdliblutt ausziehen»

Die Werbeagentur Wirz macht Ernst: Aus der Ankündigung, das klassische Stundenabrechnungsmodell durch Pauschalen zu ersetzen, ist ein konkretes System geworden. Im Interview erklären die Co-CEOs Petra Dreyfus und Livio Dainese, warum sie diesen radikalen Schritt wagen und wie sie damit mehr Raum für Kreativität schaffen wollen.
Wirz: «Wir mussten uns füdliblutt ausziehen»
«Die Kreativität sollte noch mehr Raum erhalten, da die anderen Aspekte nicht mehr so viel Zeit in Anspruch nehmen»: Petra Dreyfus und Livio Dainese, Co-CEOs von Wirz, blicken hoffnungsvoll in die Zukunft. (Bild: Raphaela Pichler)

«Die Werbeagentur Wirz wagt die Revolution», so lautete eine Schlagzeile Mitte Juli. Wie haben Ihre Kunden auf diese Ankündigung reagiert?
Livio Dainese: Die Reaktionen waren überwiegend interessiert, teils jedoch auch skeptisch. Es gab zahlreiche Fragen.

Sie möchten mit dem Stundenabrechnungsmodell brechen und stattdessen Pauschalen für Ihre Leistungen einführen. Warum dieser Wandel?
Dainese: Es geht nicht um die Wahl zwischen Stunden oder Pauschalen, sondern um den Fokus auf Lösungen statt Aufwand. Bisher haben wir den Aufwand in Form von Stunden in Rechnung gestellt; künftig verkaufen wir Lösungen.

Und was hat diesen Systemwechsel ausgelöst?
Petra Dreyfus: Einerseits setzen wir unsere Kreativität immer mehr für Lösungen ein, die keine Werbung sind. Ein neues Abo für die Deutsche Telekom zum Beispiel. Andererseits bedeutet die Stundenabrechnung einen enormen Aufwand für die Kunden und die Agentur – und den will niemand bezahlen. Das alte System schafft einen falschen Anreiz, da die Agentur profitiert, je mehr Stunden sie abrechnet. Das steht im Widerspruch zum Ziel des Kunden, der eine möglichst schnelle Lösung wünscht.

Es scheint, als hätten Sie einfach genug von dem Papierkram …
Dainese: Nein, wir sind überzeugt – und das schon seit Jahren – dass Kreativität weit über blosse Werbung hinausgeht. Wir haben stets nach einem System gesucht, das es uns ermöglicht, diese Sichtweise nicht nur zu vertreten, sondern auch mit einem konkreten Preismodell und einer Systematik zu untermauern. Dies war unser Antrieb, und wir wollten dies umsetzen, solange es uns gut geht, nicht nur als Massnahme zur Kostensenkung.

Radikale Veränderungen deuten oft auf Verzweiflung hin. Geht es Wirz tatsächlich gut?
Dainese: Wir sind stabil, aber das aktuelle Marktumfeld ist auch für uns eine Herausforderung. Wir freuen uns aber auf die Zukunft, denn wir haben sie selbst gebaut.

In letzter Zeit haben viele Agenturen reihenweise Mitarbeitende entlassen. Wie viele mussten bei Ihnen in diesem Jahr gehen?
Dreyfus: 2024 war ein Jahr des Wandels für uns. Wir arbeiten auch heute noch für die Migros, aber nicht mehr als einzige Agentur, und wir erhielten immer mehr Anfragen, deren Lösung keine Kampagne war. Das hat uns dazu veranlasst, unser Modell genauer zu betrachten. Manchmal kann aus einem Unglück auch Glück entstehen.

Und das Glück ist aus unternehmerischer Sicht, aber nicht unbedingt aus Sicht der Mitarbeitenden. Wie viele wurden entlassen? Können Sie eine Zahl nennen?
Dreyfus: Nein.

Aber es mussten doch Mitarbeitende gehen?
Dreyfus: Ja, auch wir mussten leider Kündigungen aussprechen. Im Bereich der Umsetzung benötigen wir schlicht weniger Personal. Gleichzeitig haben wir jedoch wieder Stellen ausgeschrieben, da wir feststellen, dass wir künftig andere Talente benötigen.

«Wir haben in der Vergangenheit zunehmend nach Alternativen zu reinen Kampagnen gesucht»

Im erwähnten Artikel aus dem Sommer sprachen Sie von dem Non-Bier für Migros, das für die Agentur unter dem Strich rein kommerziell gesehen kein Erfolg gewesen sei. Werden Agenturen zunehmend zu Produktentwicklern?
Dainese: Das war natürlich ein plakatives Beispiel. Der Punkt ist, dass wir bisher einen Artikel wie ein Migros-Bier in unserem Bauchladen nicht angeboten haben. Solche Produkte entstehen und erfordern einen coolen Kunden. Wir waren dankbar, dass die Migros sagte: «Wir haben zwar eine Abstimmungskampagne bestellt, aber jetzt kommt ihr mit einem Bier. Okay.» Andere hätten möglicherweise gesagt: «Ich habe eine Abstimmungskampagne bestellt, nicht ein Bier. Was macht ihr da?» Aber es spuken noch mehr solche Ideen, wie das Bier, in unseren Köpfen herum, und wir möchten sie verwirklichen.

Dreyfus: Eine solche Produktentwicklung zeigt, dass die richtige Lösung oft nicht einfach eine Kampagne ist, sondern eine neue Dienstleistung oder ein neues Produkt. Aus diesem Grund haben wir in der Vergangenheit zunehmend nach Alternativen zu reinen Kampagnen gesucht.

Kommen wir zum neuen System von Wirz, das mittlerweile konkrete Formen angenommen hat (persoenlich.com berichtete). Wie sieht dieses aus?
Dainese: Anstatt wie bisher nur eine Türe mit der Aufschrift «Werbung» zu haben, bieten wir jetzt drei Türen. Die erste ist im weitesten Sinne im Bereich Werbung angesiedelt. Wir nennen sie «Brand Capital». Die zweite nennen wir «Market Readiness», was alle Treiber und Hindernisse in der Customer Journey umfasst. Die dritte Tür heisst «New Game» – hier geht es darum, neue Marktchancen für Kunden zu eröffnen. Um all dies zu ermöglichen, haben wir ein System entwickelt, das aus fünf Schritten besteht. In jedem dieser Schritte gibt es Produkte, die spezifische Teilbereiche lösen können. Diese Produkte lassen sich zu Programmen kombinieren.

Sie werden also künftig modulare Bausteine verkaufen. Wie kann der Kunde künftig wissen, durch welche der drei Türen er gehen soll? Findet er den Eingang zu Wirz überhaupt noch?
Dainese: (Lacht.) Natürlich haben wir immer noch einen physischen Eingang. Idealerweise kommt jemand mit einem Problem zu uns. Hier kann ich ein Beispiel nennen: Der Kunde fragt ja nicht nach einem unterhaltsamen Film mit Roger Federer, sondern er möchte mehr Bekanntheit für die Schweiz. Kunden suchen nicht einfach nach Social Media – sie möchten Engagement mit ihren Marken.

Dreyfus: Man muss sich nicht überlegen, durch welche Türe man gehen möchte. Wir setzen uns zusammen und analysieren die Herausforderungen und Bedürfnisse des Kunden, um gemeinsam zu entscheiden, welcher Weg der richtige ist. Diese grundlegende Änderung des gesamten Systems ist ein Mindshift: Wir konzentrieren uns auf Lösungen und Ergebnisse, weg von Stunden und Aufwand.

«Es fühlt sich grossartig an und macht unglaublich viel Spass»

Wirz sieht sich künftig als «Creative Business Partner» statt als klassische Agentur. Sie haben sich von englischen Agenturen inspirieren lassen, die bereits so vorgehen. Gab es persönlichen Austausch mit Kollegen?
Dreyfus: Ja, wir haben verschiedene Dinge in Angriff genommen. Im angelsächsischen Raum gibt es bereits viel Literatur darüber. Amerikanische, englische und holländische Agenturen arbeiten schon länger nach diesen Prinzipien. Einige dieser Agenturen wurden von einer Londoner Agentur beraten, und auch wir lassen uns von ihnen unterstützen. Der Austausch mit diesen Agenturen, die diesen Weg bereits eingeschlagen haben, war sehr wertvoll.

Dainese: Ich hoffe, Sie spüren es auch: Wir sind voller Energie. Wir mussten uns füdliblutt ausziehen und neu zusammenbauen. Aber es fühlt sich grossartig an und macht unglaublich viel Spass.

Dreyfus: Dass unsere kommerziellen Ziele nun im Einklang mit den strategischen Zielen der Kunden stehen, sollte selbstverständlich sein – war es jedoch im alten Modell nicht.

Was hat sich in der Werbewelt geändert, sodass ein solcher Schritt nötig wurde?
Dainese: Die kurze Antwort: Nichts, seit 30 Jahren. Die Art, wie Werber arbeiten, bleibt gleich.

Aber die Welt hat sich doch verändert …
Dreyfus: Ein Beispiel: Vor zehn Jahren hatte ein Kunde ein Budget von zwei Millionen Franken und setzte dieses hauptsächlich für klassische Werbung ein, wie Kino, TV und Plakate, auch Above-the-line (ATL) genannt. Heute hat er, wenn es gut läuft, ebenfalls zwei Millionen, nutzt dieses Geld jedoch nicht nur für ATL, sondern auch für SEA, SEO, Social Media und Influencer Marketing. Dadurch benötigt er viele Agenturen und investiert viel in Produktionen, hat jedoch für die einzelnen Kanäle weniger Mittel.

Dainese: Ein weiterer wichtiger Punkt: Unser Selbstbewusstsein ist gewachsen. Wir haben zwei grosse Vorteile: Unsere Kreativität, die unsere Superkraft ist, und unsere Nähe zu den Leuten. Diese Denkweise haben wir verinnerlicht. Es nützt nichts, eine Strategie mit 14 englischen Wörtern zu formulieren, die gut klingt und vom CEO verstanden wird, während die Mitarbeitenden nicht mitziehen.

«Schlussendlich bedeutet eine systematisierte Arbeitsweise nicht standardisiertes Denken»

Das neue Konzept basiert auf systematisierten Prozessen. Besteht da nicht die Gefahr, dass alle Kampagnen am Ende ähnlich aussehen?
Dreyfus: Das ist eine sehr gute Frage und zentral. Wir versuchen durch die Systematisierung des Prozesses, die Abläufe zu beschleunigen, sodass die Kunden nicht mehr so viel für Administration und Koordination zahlen müssen. Das Kernprodukt – die Kreativität – bearbeiten wir mit der gleichen Leidenschaft und dem gleichen Zeitaufwand wie bisher. Im Gegenteil: Die Kreativität sollte noch mehr Raum erhalten, da die anderen Aspekte nicht mehr so viel Zeit in Anspruch nehmen. Schlussendlich bedeutet eine systematisierte Arbeitsweise nicht standardisiertes Denken.

Dainese: Mein Herz schlägt für die Kreation. Das ist für mich alles. Ich würde nie an einem Ort arbeiten, an dem sie nicht im Zentrum steht.

Dreyfus: Creative Excellence bleibt unser Unterscheidungsmerkmal. Das ist äusserst wichtig und der Schlüssel, wie wir uns differenzieren gegenüber allen anderen Systemikern. Wir wollen es einfach schneller auf die Strasse bringen.

Apropos Strasse – zusammengefasst: Ihr schickt künftig den Putzwagen voraus, der den ganzen Müll wegräumt, damit die Kreativen freie Bahn haben.
Dreyfus: Das ist ein schönes Bild (lacht).

Dainese: Ja, das klauen wir.

Petra Dreyfus, gegenüber der Schweiz am Wochenende sagten Sie: «Wir haben jetzt einen neuen Weg eingeschlagen, der es uns erlaubt, unsere Leistungen zu monetarisieren.» Das klang danach, als ob Wirz teurer wird.
Dreyfus: Ich hoffe, dass wir bei einigen Produkten effizienter sind und dadurch günstigere Preise anbieten können. Die Preisgestaltung, ob günstiger oder teurer, stand jedoch nicht im Mittelpunkt. Wir müssen – und das gilt für alle Agenturen – schneller zum Ergebnis kommen. Und wir dürfen uns nicht in einer übermässigen Administration verlieren, die bis zu 18 Prozent des Budgets in Anspruch nimmt.

Dainese: Die Arbeit wird für die Kunden deutlich präziser und effektiver …

Dreyfus: … und mehr Leistung fliesst direkt in das Kernprodukt. Wir hoffen, dass diese 18 Prozent Administrationskosten künftig direkt in unsere Dienstleistungen fliessen.

Dainese: Der Kunde bezieht nicht nur Effizienz, sondern auch Präzision. Er möchte, dass sein Problem gelöst wird. Ich hoffe, dass unsere Kunden in drei Jahren nicht mehr zu uns kommen und sagen: «Ich brauche einen neuen Film», sondern fragen: «Hey, was machen wir mit dieser Gen Z?»

«Wir sind jetzt viel flexibler»

In einigen Jahren werden andere Agenturen Ihr Konzept möglicherweise kopieren. Dann könnten Ihre Pauschalen nur noch Wunschvorstellungen sein: Wenn Sie beispielsweise 100'000 Franken verlangen, findet sich immer eine Agentur, die es für 50'000 Franken anbietet. Haben Sie keine Angst, Kunden zu verlieren?
Dreyfus: Das ist kein neues Phänomen. Den Preiskampf gab es schon immer – sowohl bei der Stundenabrechnung als auch bei Pauschalen. Der entscheidende Unterschied liegt in dem, was wir liefern.

Dainese: Wir unterscheiden uns wie bis anhin durch die Qualität der Ideen und deren Umsetzung.

Immer mehr potenzielle Kunden setzen Kampagnen inhouse um. Wie können Sie solche Unternehmen davon überzeugen, dass eine Agentur einen Mehrwert bieten kann?
Dainese: Der Trend, dass marketinggetriebene Kunden ihre internen Abteilungen ausbauen, ist ungebrochen. Aber kaum jemand kann wirklich alles inhouse auf hohem Niveau bewältigen. Überlegen Sie, wie schwierig es ist, erstklassige Strategen und Kreative für eine so lässige Agentur wie unsere zu finden. Die Schraubenfabrik Emmenbrücke kann nicht alles intern erledigen. Für solche Kunden wird es jedoch in Zukunft einfacher werden, bestimmte Dienstleistungen von uns zu beziehen.

Dreyfus: Wir sind jetzt viel flexibler: Man kann uns nur für die Kreation, nur für die Strategie oder nur für die Analyse engagieren. Das wurde früher auch gesagt, aber es war unklar, wo die Grenzen liegen. Wir disziplinieren uns darin, zu wissen, wo der Anfang und wo das Ende sind.

Wo sehen Sie Wirz in einem Jahr?
Dreyfus: Ui, das möchte ich auch wissen (lacht).

Wir sitzen hier im Sitzungszimmer «Blackbox». Ist Ihr neues System nicht auch eine Blackbox?
Dainese: Überhaupt nicht, ganz im Gegenteil. Wir haben uns bereits seit mehreren Jahren intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt. Das neue Modell ist die Umsetzung von etwas, das uns schon lange beschäftigt. Ich bin überzeugt, dass wir in einem Jahr wesentlich diverser arbeiten werden, viel mehr Probleme lösen werden und dennoch weiterhin für die grossen, beeindruckenden Geschichten stehen werden, die die Schweiz kennt. Das möchten wir auch weiterhin tun.


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KOMMENTARE

Claus Bornholt
30.10.2024 12:49 Uhr
Schade, dass hier wie so häufig nur geschnödet wird. Ich finde den Schritt mutig und richtig. Ob es sich bewährt, wird sich zeigen. Aber wenn sich die Rahmenbedingungen ändern - und sie haben sich in den letzten Jahren massiv verändert - muss man sich anpassen. Man kann das als "ewiges Neuerfinden" abtun. Oder als das, was die Aufgabe des Managements ist: Steuern. Ich drücke jedenfalls die Daumen.
Sascha Dudic
29.10.2024 13:37 Uhr
Das was Peter sagt. Trotzdem ein spannendes Interview! Kurioserweise wird die neue Ausrichtung mit der Antwort, auf "Was hat sich in der Werbewelt geändert, sodass ein solcher Schritt nötig wurde?" "Die kurze Antwort: Nichts, seit 30 Jahren. Die Art, wie Werber arbeiten, bleibt gleich." irgendwie schon ad absurdum geführt, odr? In 30 jahren hat sich die Art, wie Werber arbeiten schon sehr verändert.
Hannelore Hoenig
29.10.2024 11:06 Uhr
Oh Wirz! Wow! Das, was Wirz macht, machen kleinere und mittelgrosse Agenturen schon längst. Ich arbeite mit meiner Agentur schon seit Jahren auf dieser (selbstverständlichen) Basis zusammen.. Etwas beschämend, dass die Agentur diese Präsenz und diese Headline auf der Plattform bekommt. Alles etwas arg aufgeblasen. In England abgeschaut ... uhhh ... ein Affront ggü. den mittel- und kleineren Agenturen.
Peter Martin
29.10.2024 08:22 Uhr
Es ist ja wohl klar, dass diese Pauschalen zumindest nicht günstiger sind als die bisherigen Stundenabrechnungen. Kunden können dies auch bewusst ausnützen, indem sie einfach noch ein paar Extrarunden verlangen – zum gleichen Preis. Und ob sich eine Bude Werbeagentur oder Creative Partners nennt, ist mir als Kunde ziemlich Schnuppe. Dieses ewige Neuerfinden von Agenturenleistungen generiert nur enormen internen (unbezahlten) Aufwand und Frust der Belegschaft.
Tom Fischer
29.10.2024 02:15 Uhr
Cringe. Die Antworten in diesem Interview bestehen selbst aus abgegriffenen Marketingphrasen. Tatsächlich "Neues" kann man nicht erkennen.

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