Rémy Müller, wie viele Migros-Wichtel hätten Sie dieses Jahr brauchen können, um Sie im Marketing zu unterstützen?
Ich habe bereits ganz viele. Wir haben ein grossartiges Team, und das meine ich wirklich so. Wir sind rund 230 Leute in der Marketingkommunikation. Es gibt wohl niemanden im ganzen Land, der so viele Wichtel hat wie ich. Es gibt wahrscheinlich auch niemanden, der so viele hochkompetente Fachkräfte in so vielen Bereichen hat wie wir.
Anfang 2024 haben Sie die Abteilung Marketingkommunikation bei der neuen Migros Supermarkt AG übernommen (persoenlich.com berichtete). Wie wild war der Ritt?
Wild (lacht). Ich muss etwas ausholen: Ich startete am 1. November 2023 bei der Migros. Damals gab es noch zwei Direktionen, kurz vor der Fusion von Kommunikation & Medien und der ehemaligen Marketingkommunikation. Nach der Fusion waren wir etwa 320 Leute. Kulturell war es eine ganz spezielle Zeit: Zum einen durch den Wechsel von Denner zur Migros, das war eine komplett andere Dimension. Zum anderen aber auch intern: Bei Kommunikation & Medien herrschte eine völlig andere Kultur als bei der ehemaligen MarKom.
Sie waren zuvor 7,5 Jahre bei der Migros-Tochter Denner. Wie unterscheiden sich diese Kulturen?
Bei der Migros gibt es viel mehr Gremien als bei Denner – viele Leute, die von Entscheidungen betroffen sind. Bei Denner führte die Geschäftsleitung das Unternehmen, ohne viele Gremien.
Herrschte bei Denner also eine Hands-on-Mentalität?
Absolut. Aber wir hatten auch nie so viele Profis für spezifische Themen wie hier bei der Migros. Das ist sehr wertvoll, weil man weniger Gefahr läuft, Informationen zu verpassen. Gleichzeitig macht es natürlich nicht agiler, wenn man alle abholen muss.
Wie haben Sie bei Denner die Balance zwischen Hands-on-Mentalität und strategischer Markenführung gefunden? In einem Interview wurde ja kritisiert, die Markenführung von Denner sei wässrig gewesen, man könne aus den Kampagnen viel herauslesen …
Die Markenführung war nie unklar. Ich kann ein Beispiel nennen: Man arbeitet an einer Marke mit einem klaren Zielbild und überlegt sich, wo diese in fünf, zehn oder fünfzehn Jahren stehen soll. Die Transformation vom Ist zum Soll wird immer Themen beinhalten, die die Menschen zunächst nicht verstehen müssen. Als wir bei Denner erstmals eine Plakatkampagne machten, die nicht nur rot war, sondern andere Farben hatte, fragten wir uns: Erkennen die Menschen noch, dass das eine Denner-Kampagne ist? Wir wählten bewusst diesen Weg, weil wir das Unternehmen neu positionieren wollten. Die Menschen haben gemerkt, dass dies nicht mehr der alte Denner war – und wurden neugierig.
«Geld für Angebotswerbung verpufft nach einer Woche, wenn die Aktion ausläuft»
Sie haben auch Agenturerfahrung, waren bei KSP und Exxtra Kommunikation. Für Detailhändler zu werben, soll generell schwieriger sein als für andere Branchen, weil vor allem der Verkauf im Fokus steht.
Ich weiss nicht, ob das stimmt. Bei KSP habe ich Autowerbung gemacht – dort ist es ähnlich: Am Ende will der Händler ein Auto verkaufen. Die Herausforderung im Detailhandel ist eine andere: Das Produkt ist schnell austauschbar, bei Aktionen dominiert der Preis. Wir könnten das gesamte Budget in Aktionswerbung investieren, aber das würde uns eher schaden. Das Problem: Geld für Angebotswerbung verpufft nach einer Woche, wenn die Aktion ausläuft. Zudem würde man uns auf den Preis reduzieren. Alle anderen Aspekte – unsere Verankerung in der Gesellschaft, die regionale Präsenz, unser weiteres Engagement als Unternehmen – würden in den Hintergrund rücken.
Und bei Imagewerbung?
Imagewerbung muss einen langfristigen Effekt haben. Ich messe nicht, ob die Werbung übernächste Woche mehr Umsatz generiert. Wir wollen ein Markenprofil schaffen und festigen, damit die Menschen auch dann bei uns einkaufen, wenn gerade keine passenden Aktionen laufen.
Welches Image hätte die Migros, wenn sie eine Person wäre?
(Überlegt.) Der wichtigste Charakterzug wäre «liebenswürdig». Das ist der grosse Unterschied zu vielen anderen Unternehmen. Die Migros nimmt Rücksicht auf die Gesellschaft, auf die Bedürfnisse unseres Landes. Ich bin überzeugt, dass es kein anderes Unternehmen gibt, bei dem dies so tief verankert ist.
Ein liebenswürdiger Charakter, aber vielleicht auch etwas unsicher? Von aussen hat man den Eindruck, die Migros suche ihre Identität.
Die Migros hat in der Vergangenheit zu wenig an der eigenen Effizienz gearbeitet. Dies hat dazu geführt, dass zu wenig Spielraum bei den Preisen bestand und zu wenig darüber gesprochen wurde. Das haben wir jetzt bis zu einem gewissen Grad nachgeholt. Im nächsten Jahr kommen weitere Themen, die unsere Strategie komplettieren. Dann wird hoffentlich noch klarer, in welchen Bereichen wir tatsächlich besser sein wollen.
«Wir positionieren uns schärfer, bleiben aber unseren Grundwerten treu»
Apropos Preise – die neue Tiefpreisstrategie wurde kritisiert. Soll aus der Migros ein Denner werden?
Nein. Die neue Tiefpreisstrategie der Migros ist eine Folge der Transformation: Die Migros verkauft verlustbringende Unternehmen und gibt das eingesparte Geld den Kundinnen und Kunden mit tieferen Preisen zurück. In der Werbung entscheiden wir uns für Botschaften, die in Zukunft profilierend für das Unternehmen sein sollen. Wir positionieren uns schärfer, bleiben aber unseren Grundwerten treu.
Wie schwierig war es, in diesem Umstrukturierungsjahr überzeugende Marketingbotschaften zu transportieren?
Es ist sicher schwieriger als in Zeiten, in denen einem alle Konfetti zuschmeissen. Nehmen wir den Spot mit Rowan Atkinson: Wir diskutierten intern, ob es angebracht ist, in Zeiten von Restrukturierung und Entlassungen mit einem internationalen Star zu werben. Wir haben das für uns am Schluss so begründet: Das reguläre Budget wurde nicht überschritten, weil wir dafür bei der Medialeistung reduziert haben. Am Ende ist es eine Geschichte, die hilft, das Unternehmen zu positionieren.
Wie kam Mr. Bean ins Spiel?
Als uns das Skript für «Chocolat ohne Trallala» präsentiert wurde, waren wir uns einig: Diese Rolle kann nur einer auf der Welt richtig gut spielen. Die Idee entstand aus einer Schnapsidee. Bei unserer Anfrage fand Atkinson das Skript so cool, dass er sofort zusagte.
Die Kampagne stichelte gegen die Maître Chocolatiers der Konkurrenz...
Wir haben nicht einen spezifischen Player angesprochen, sondern eine Branche, die suggeriert, Menschen würden mit goldenen Löffeln Schokolade machen. Auch bei unseren Konkurrenten, zumindest den grossen, stehen nur Maschinen. Unsere Positionierung ist erstklassige Schokolade zum guten Preis, ohne Trallala.
Ein grosses Thema in der Kommunikationsbranche waren in diesem Jahr auch die sogenannten Werbedubletten. Im Sommer glich eine Denner-Kampagne jener der Migros vor zwei Jahren, im Herbst glich eine Migros-Kampagne jener von Denner. Meine These: Beide Dubletten haben Sie verantwortet.
Die Denner-Kampagne entstand nach meinem Weggang. Die Subito-Kampagne der Migros kannte ich ehrlich gesagt nicht – es war eher eine kleine Kampagne, bei der Recherche nicht auffindbar.
Wenn es nicht auf persoenlich.com steht, ist es nicht passiert …
(Lacht.) Stimmt, persoenlich.com ist tatsächlich die erste Anlaufstelle, wenn man nach früheren Kampagnen recherchiert. Aber diese Kampagne war offenbar zu klein.
«Es gibt nur wenige, die es beherrschen, eine Botschaft plakativ zu transportieren»
Und die aktuelle «Frisch gesenkt»-Kampagne der Migros?
Ich bin ein Freund von Reduktion. Das Plakat ist eine Königsdisziplin. Es gibt nur wenige, die es beherrschen, eine Botschaft plakativ zu transportieren. Dass nun alle darüber diskutieren, ist unglaublich cool, und das zeigt unsere Relevanz im Markt. Ich kenne Konkurrenten, über die nicht gesprochen wird, wenn sie eine Kampagne machen. Diese Aufmerksamkeit ehrt uns selbstverständlich (lacht). Ich bin sicher, dass die meisten die Ähnlichkeit mit der früheren Denner-Kampagne nicht sehen – das ist ein Thema in der Fach-Bubble.
Im Mai gewann Thjnk Zürich einen Migros-Pitch. Sie haben bei Denner lange mit Thjnk zusammengearbeitet. Hatten andere Agenturen im Pitch also gar keine Chance?
Es gibt zwei Sachen, die mir wichtig sind: Erstens war es kein Migros-Pitch, sondern ein Pitch für die aktuelle Imagekampagne. Der Strategiewechsel zu meinen Vorgängern ist, dass ich keine Leadagentur mehr will, weil der Lead ins Unternehmen gehört. Wir haben eine so wertvolle Marke, dass wir die Verantwortung dafür selbst übernehmen müssen und entscheiden, in welchem Bereich wir mit welcher Agentur zusammenarbeiten. Mir ist die Freiheit wichtig, für jedes Thema den am besten geeigneten Partner auszuwählen. Auch mit Wirz sind wir nach wie vor sehr zufrieden.
Und zweitens?
Die Chancen waren für alle gleich. Aber es überrascht mich nicht, dass dies ein Thema wurde, denn ich habe schon früher mit dieser Agentur gerne gearbeitet.
Gab es den Vorwurf der Vetterliwirtschaft?
Genau, es hiess von manchen Stellen, es sei ja klar gewesen, dass Thjnk den Pitch gewinnt, dem ist aber nicht so. Ich habe die Auswahl der Agenturen übrigens nicht gemacht, die kam von meinem Team. Alle hatten die gleichen Chancen, die beste Idee hat gewonnen.
«Kreativität findet nicht nur am Limmatplatz statt»
Wenn man sich bei Werbern umhört, wird klar, dass immer mehr Werbeauftraggeber die Kampagnen inhouse kreieren. Ist das auch eine Strategie, die Sie bei der Migros verfolgen möchten? Immerhin haben Sie bereits angekündigt, die Mediaplanung teils inhouse machen zu wollen.
Nein, was kreative Leistungen betrifft, gibt es keine solchen Pläne. Es gibt ganz wenige, die beweisen, dass sie das können. Eines unserer Tochterunternehmen ist sehr erfolgreich unterwegs: Digitec Galaxus. In unserer Grösse braucht es ein Portfolio an Agenturen. Kreativität findet nicht nur am Limmatplatz statt, sondern auch dort, wo der ganze Markt beobachtet wird.
Auch ein Thema in diesem Jahr: das Migros-Magazin. Sie verantworten den grössten Teil des Inhalts, den kleineren Teil Migros-Kommunikationschef Christian Dorer. Macht eine solche Aufteilung Sinn, müsste es nicht einen klaren Hauptverantwortlichen geben?
Es gibt ein Team für unsere Themen und ein Team für die Themen der Migros-Gruppe. Am Ende fliesst alles bei Chefredaktorin Sabine Eva Wittwer zusammen. Das klappt in der Praxis sehr gut.
Sabine Eva Wittwer ist Ihnen unterstellt.
Sie ist bei uns, genau. Der Grund für diese Struktur: Wir betreiben Corporate Publishing. Das Migros-Magazin ist keine klassische Zeitung. Für uns ist wichtig, dass die Supermarktthemen, die 60 Prozent des Magazins ausmachen, in unserer Verantwortung sind. Das hat mit Synergien zu tun, nicht mit Macht. Alle anderen Themen – Unternehmenspolitik, Wirtschaftspolitik, Nachhaltigkeit, übergreifende Gruppenthemen oder Nachrichten aus den Tochterunternehmen – sind in der Unternehmenskommunikation bei Christian Dorer.
Das Migros-Magazin wurde zu einem «kommentierten Produktekatalog», hiess es im persoenlich.com-Podcast. Wie viele Aboabbestellungen sind seit der Neuausrichtung schon eingegangen?
(Lacht.) Es gab keine Ausreisser. Wir sind sehr erfolgreich unterwegs mit dem Magazin. Manchmal habe ich das Gefühl, jeder in der Schweiz hat schon mal für die Migros gearbeitet. Da gibt es natürlich Menschen, die diese Entwicklungen gut finden, und andere weniger. Alle haben eine Stimme und dürfen ihre Meinung äussern. Für uns stimmt das Produkt. Wir optimieren kontinuierlich: unser Sortiment, die Logistik, unsere IT und eben auch das Migros-Magazin.
«Wir lassen uns nicht von jedem Kommentar verunsichern»
Es gab mal den Slogan «Die Migros gehört den Leuten». Vielleicht wollen deshalb alle mitreden.
Eigentlich ist es eine grosse Ehre, dass sich alle einbringen. Ich sehe es als Kompliment, dass die Menschen eine so starke Verbundenheit zur Marke Migros haben. Aber wir lassen uns nicht von jedem Kommentar verunsichern. Wir haben eine Strategie und sind zu 150 Prozent überzeugt, dass sie richtig ist. Wir freuen uns darauf, diese in den nächsten Jahren umzusetzen.
Nächstes Jahr wird die Migros 100 Jahre alt. Das muss für Sie als Marketingchef wie Weihnachten, Geburtstag und Ostern zusammen sein.
Das ist es tatsächlich. Dieses Glück habe ich sicher nur einmal im Leben, zum richtigen Zeitpunkt bei einem solchen Unternehmen zu sein. Wir freuen uns sehr darauf. Ich finde es wunderbar, dass wir nächstes Jahr diesen Geburtstag mit den Menschen in der Schweiz feiern dürfen.
Was können die Kundinnen und Kunden erwarten?
Dazu sagen wir noch nichts. Es soll ein Geburtstag voller Überraschungen sein. Anfang Jahr beginnen wir, Stück für Stück zu kommunizieren. Aber was ich schon verraten kann: Wir haben für alle Menschen in der Schweiz sehr viele Aktionen geplant, auf die sie sich wirklich freuen können.
Wird es auch eine Kampagne geben, die keiner anderen bereits dagewesenen ähneln wird?
(Lacht.) Ich bin überzeugt, dass unser Auftaktfilm etwas ist, das noch kein anderes Unternehmen gemacht hat. Er wird für Unterhaltung und sicher auch für Gesprächsstoff sorgen.
Apropos Film: Kommt 2025 Finn zu seinem fünften Auftritt?
Das nehmen wir nicht vorweg. Aber je länger wir dem Wichtel zuschauen, desto mehr sehen wir, wie die Leute an dieser Figur hängen. Es müsste uns schon etwas unglaublich Gutes einfallen, um eine Alternative zu finden.
Zum Schluss noch: Sind Sie eigentlich ein Migros-Kind?
Ja, selbstverständlich. Während des Gymnasiums arbeitete ich bei der Migros Luzern an der Kasse. Das war für mich der Start meiner Beziehung zur Migros. Und seitdem hat mich das nie richtig losgelassen.
In der Serie «Das war 2024» greifen wir die grossen Themen des Jahres in kompakter Form nochmals auf. Hier finden Sie die Übersicht.