Sebastian Ramspeck, Sie haben die neueste Folge von «#SRFglobal» in Kiew produziert. Dass SRF eine ganze Sendung in einem Land im Krieg dreht, kommt selten vor. Welchen Mehrwert bringt es für die Zuschauenden, dass Sie vor Ort waren?
Wir konnten eine Folge über Kiew produzieren, die den Alltag einer Millionenmetropole im Kriegszustand zeigt. Wir konnten eintauchen in die Geschichte Kiews, die ihre Schatten in die Gegenwart wirft – und in die Zukunft. Von Zürich aus wäre es nicht möglich gewesen, nah am Alltag der Menschen zu sein, das Nachtleben zu zeigen, eine Schule, einen Gottesdienst, auch die Luftabwehr. Und ein Interview mit dem Bürgermeister zu führen, mit Vitali Klitschko.
Sie sind im Zweierteam mit Produzentin Christina Brun als VJ in die Ukraine gereist. Was waren die Herausforderungen bei der Planung und der Umsetzung des Projektes?
Wenn wir «#SRFglobal» vor Ort im Ausland drehen, gilt immer: möglichst viel im Voraus planen – und dann vor Ort möglichst viel improvisieren. Nun führt Krieg dazu, dass die Menschen ihr Berufs- und Privatleben noch viel stärker improvisieren, als wir das tun. Das mussten wir bei der Arbeit berücksichtigen. Vitali Klitschko war nach langem Hin und Her bereit, uns ein Interview zu geben. Jedoch mit der klaren Ansage: Der genaue Termin wird sehr kurzfristig vereinbart und kann jederzeit wieder abgesagt werden – zum Beispiel wegen eines russischen Angriffs.
«Für den Notfall hatten wir ein Satellitentelefon dabei»
Wie haben Sie die Sicherheitslage für sich vor Ort erlebt?
Die Stadt wirkte auf den ersten Blick wie eine ganz normale Millionenmetropole – mit dem Unterschied, dass es alle paar Stunden Luftalarm gab, vor allem zwischen Mitternacht und den frühen Morgenstunden. Jeder weiss: Das Risiko, dass eine russische Drohne oder Rakete gerade jetzt gerade mich tötet, ist sehr klein. Zermürbend ist das Gefühl allemal.
Welche besonderen Vorsichtsmassnahmen haben Sie getroffen?
Vor der Abreise haben wir die Sicherheitslage mit unserem Sicherheitsteam bei SRF in Zürich sowei mit unserem Ukraine-Korrespondenten David Nauer und seiner Mitarbeiterin vor Ort besprochen. Für den Notfall hatten wir ein Satellitentelefon dabei, Gehörschutz, «Presse»-Westen, solche Sachen. Nichts von dem kam zum Einsatz, glücklicherweise.
«Klitschko hat auf alles geantwortet, mal ausweichend, mal klar und deutlich»
Sie haben Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko zum Gespräch getroffen. Wie bereitet man als Journalist ein solches Interview vor? Sind kritische Fragen erlaubt?
Ja, das Team von Klitschko wollte nur ungefähr wissen, worum es im Gespräch geht, hat aber keine Vorgaben gemacht. Wir haben viel über Klitschko gelesen und uns auch den Dokumentarfilm angeschaut, der kürzlich über ihn gedreht wurde. Im Gespräch haben wir dann selbstverständlich auch die Korruptionsvorwürfe gegen ihn angesprochen, sein schwieriges Verhältnis zu Präsident Wolodimir Selenski. Klitschko hat auf alles geantwortet, mal ausweichend, mal klar und deutlich – nicht anders als irgendein anderer Politiker. Überhaupt reden alle Menschen sehr offen mit Journalistinnen und Journalisten. Die einen loben Klitschko und Selenski, andere kritisieren sie heftig; zu jeder Frage gibt es ein grosses Meinungsspektrum. Wir hatten nie das Gefühl, dass die Menschen ihre Meinung verbergen.
Sie haben auch mit Kiewerinnen und Kiewern gesprochen. Was hat Sie dabei am meisten geprägt?
Aus den paar Tagen in Kiew haben sich unzählige Anekdoten und Erinnerungen eingeprägt. Zum Beispiel eine zufällige Begegnung mit einem 22-jährigen Mann, der an der Front den rechten Arm verloren hat. Seine Verzweiflung war schwer zu ertragen. Gleichzeitig beeindruckte er durch ein schier unglaubliches Wissen über Geschichte und Politik. Er wusste sogar, wie der Schweizer Bundesrat funktioniert. Oder eine Anekdote: In Kiewer Bars werden ständig neue Mocktails kreiert, weil ein Grossteil der jungen Menschen kein Alkohol mehr trinken darf – und zwar weil sie Antidepressiva nehmen gegen die Kriegsangst.
«Vielen in der Ukraine erscheint Frieden völlig undenkbar»
Welche Erkenntnisse nehmen Sie aus dieser Erfahrung mit für Ihre künftige Berichterstattung zum Krieg in der Ukraine?
Frieden wird es irgendwann geben – aber vielen in der Ukraine erscheint Frieden völlig undenkbar. Denn für den russischen Präsidenten Wladimir Putin ist die Ukraine keine eigenständige Nation, die Ukraine gehört aus seiner Sicht zu Russland. Weshalb also sollte Putin den Krieg beenden, solange es für ihn militärisch gut läuft? Dieser Blick auf den Krieg ist nicht neu, aber die Recherchen und Gespräche für diese Folgen haben ihn – leider – plausibler gemacht.