Désirée Pomper, Bernhard Brechbühl, wie stark ist Ihnen zum Feiern zumute in diesem «Jahr des Grauens» mit grossem Stellenabbau in den Medien?
Désirée Pomper: Wir haben am 5. Dezember unser 25. Jubiläum gefeiert. Wenn ich dort etwas gespürt habe, dann Aufbruchstimmung und den ungebrochenen Willen, bald schon wieder etwas zu feiern zu haben. Auch an den internen 20-Minuten-Awards Ende Woche werden wir wieder die Korken knallen lassen, wenn wir unsere besten und erfolgreichsten Geschichten auszeichnen. Die Zeiten sind unbestritten herausfordernd. Trotzdem stecken wir jetzt nicht den Kopf in den Sand, sondern schauen voller Tatendrang nach vorne.
Bernhard Brechbühl: Wir sind in bester Feierlaune. Alles andere würde 20 Minuten nicht gerecht werden. Die Medienrevolution 20 Minuten und ihr phänomenaler Erfolg in der Schweiz gehören gebührend gefeiert. Auch wenn wir uns der Realität der strukturellen Veränderungen im Medienmarkt stellen müssen: Wir beschäftigen uns nicht mit den Dingen, die wir nicht verändern können, sondern mit denen, die wir bewegen können. Wir ergreifen in bester 20-Minuten-Manier unternehmerische Chancen.
Bernhard Brechbühl, Sie haben schon unter der Eigentümerschaft von Schibsted als Journalist bei 20 Minuten gearbeitet. Was ist aus dieser Pionierzeit bis heute erhalten geblieben?
Brechbühl: Mut, Erfindergeist und Rock’n’Roll. Mit uns kann man Pferde stehlen. Das haben die rund 400 Gäste und Werbekunden an unserem Jubiläumsevent am 5. Dezember in Zürich hautnah erlebt und uns begeistert attestiert. Und das erleben unsere Nutzerinnen und Nutzer seit 25 Jahren. Nur ein Beispiel aus diesem Jahr – und ja, Innovation geht auch im Print: Für unsere Taylor-Swift-Sonderausgabe mit 150’000 Exemplaren im Sommer, die wir eigenhändig vor dem Letzigrund-Stadion verteilt haben, sind uns die Herzen zugeflogen. Und die Fans haben uns dankbar Friendship Bracelets übergestreift. Ich habe meine zusammen mit einem Exemplar der Zeitung im Büro eingerahmt.
«Ich durfte in jede Welt eintauchen, in die ich nur wollte»
Désirée Pomper, Sie sind Ende 2008 von Cash Daily zu 20 Minuten gestossen. Was reizte Sie damals, zum Pendlermedium zu wechseln?
Pomper: Ich wollte aus zwei Gründen zu 20 Minuten. Erstens wollte ich unbedingt als Inlandredaktorin arbeiten. Zweitens wollte ich, dass meine Artikel von möglichst vielen Menschen gelesen und auch verstanden werden. Wie viel Freude mir die Arbeit dann aber tatsächlich machen würde, hatte ich bei Weitem unterschätzt. Schon sehr bald durfte ich als Reporterin im Rega-Helikopter ausrücken, Bundesratsinterviews führen oder für eine Reportage im Asylheim leben. Meine Tage waren nach dem doch eher monotonen Uni-Alltag plötzlich so intensiv und erfüllend, dass es keinen Weg mehr zurück gab. Ich durfte in jede Welt eintauchen, in die ich nur wollte. Es war fantastisch.
Wenn Sie heute die erste Ausgabe von 20 Minuten anschauen, was fällt Ihnen dann auf? Wie viel von dem steckt heute noch drin?
Pomper: Es fällt mir auf, dass auf der ersten Doppelseite sieben Männer mit Krawatte abgebildet sind und keine einzige Frau. Was gleich ist: Die kurzen, kompakten, leicht verständlichen Artikel, die dank dieser Aufbereitung sehr viele Menschen erreichen. Die ausgewogene, neutrale Berichterstattung. Und natürlich der Storymix bestehend aus News, Unterhaltung und Inspiration, der nach wie vor der gleiche ist. Bei uns gibt es nach wie vor immer etwas für den Kopf und etwas fürs Herz.
Gibt es Inhalte, die vor 25 Jahren auf 20 Minuten erscheinen konnten, die Sie heute nicht mehr veröffentlichen würden?
Pomper: Als der libysche Diktator Muammar al-Gaddafi im Herbst 2011 gestürzt und getötet wurde, publizierten wir ein Bild seiner Leiche. Das würden wir heute mit Sicherheit nicht mehr tun. Wir machen uns heute grundsätzlich mehr Gedanken darüber, welche Bilder wir zeigen und welche nicht.
«Unter dem neuen Eigentümer gab es ein paar Hausregeln mehr zu beachten»
Bernhard Brechbühl, wie haben Sie den Einstieg von Tamedia 2005 erlebt? Was änderte sich damals am deutlichsten?
Brechbühl: Wie Martin Kall, damals CEO von Tamedia (heute TX Group), 20 Minuten übernommen hat, war ein Rockstar-Move. Für uns war es damals zwar etwas gewöhnungsbedürftig, aus dem mit Sprayereien verzierten Start-up-Büro im Airgate in Oerlikon an die Werdstrasse zu ziehen. Es gab ein paar Hausregeln mehr zu beachten. Aber wir haben rasch gemerkt, dass hier Unternehmertum grossgeschrieben wird. Es war also ein Match.
Sie haben 2012 20 Minuten als Journalist verlassen – und sind zehn Jahre später als CEO zurückgekommen. Haben Sie das Unternehmen wiedererkannt?
Brechbühl: Nicht nur das Unternehmen. Ich habe auch viele Kolleginnen und Kollegen, die schon damals mit mir zusammengearbeitet haben und heute in führenden Positionen tätig sind, gut wiedererkannt. Dass sie schon so lange bei 20 Minuten sind, spricht für dieses einzigartige Medienunternehmen. Seinen Kerneigenschaften ist 20 Minuten seit der Geburtsstunde treu geblieben: Kompaktheit, Neutralität, Verlässlichkeit, ein ausgeprägtes Gespür für Gesprächsstoff – und natürlich Lebensfreude. Damit sind wir seit 25 Jahren jede Minute wert.
In der Zwischenzeit hatten Sie Storyfilter.com und Izzy gegründet und waren Digitalchef der Energy Gruppe bei Ringier. Warum zog es Sie dann zurück zu einem Unternehmen mit grossem Printanteil?
Brechbühl: Mich hat in meinem ganzen Berufsleben der Inhalt interessiert und wie er für jeden Touchpoint optimal aufbereitet werden muss, damit er die Menschen erreicht und begeistert. Ganz am Anfang hatten wir mit der Zeitung lediglich einen Distributionsweg, heute gibt es – inklusive Print – über ein Dutzend. Und das Schöne ist doch: Jeder Touchpoint hat einzigartige Gattungsvorteile. Ich mag Print, weil es eine perfekte Übersicht und Choreografie der Themen ermöglicht und einen noch spontaneren Einstieg in die Inhalte erlaubt als im Digitalen. Und für viele Kinder – auch für meine – ist 20 Minuten durch die starke öffentliche Präsenz und uneingeschränkte Verfügbarkeit das natürliche Einstiegsmedium. Das Handy kommt erst später.
«Wer Ideen hatte, wurde nicht gebremst, sondern gepusht»
Désirée Pomper, wann und warum war für Sie klar, dass Sie für längere Zeit bei 20 Minuten bleiben würden?
Pomper: Mir gefiel von Anfang an die sehr unbürokratische Machermentalität mit kurzen Entscheidungswegen. Uns jungen Journalistinnen und Journalisten wurde viel Vertrauen entgegengebracht, wir übernahmen relativ schnell viel Verantwortung. Wer Ideen hatte, wurde nicht gebremst, sondern gepusht. Der hohe Pace, das Adrenalin, der Innovationsgeist, die Leute – in diesem Habitat fühlte ich mich wohl. Ich habe mich aber nie bewusst entschieden: Jetzt bleibe ich hier und mache Karriere. Sondern eher: Ich mache das, solange es mir gefällt.
Obwohl 20 Minuten ein Millionenpublikum und damit die breite Bevölkerung erreicht, kommen Aufmachung und Themenwahl sehr jugendlich daher. Wie bedienen Sie die verschiedenen Bedürfnisse der unterschiedlichen Zielgruppen?
Pomper: Ich glaube, die inhaltlichen Bedürfnisse der unterschiedlichen Zielgruppen sind eben gar nicht so verschieden. Ältere Menschen interessieren sich mehr für junge Themen als man meint. Neue gesellschaftliche Entwicklungen entstehen bei den ganz Jungen. Diese zu kennen und zu verstehen, zu wissen, was bei den Jungen angesagt ist, ist für die meisten faszinierender als vermeintliche Interessen der älteren Zielgruppe. Eine gute Geschichte ist ein Talking Piece, das sowohl von Jungen als auch von Älteren diskutiert oder weitererzählt wird. Was aber sicher hilft, ist, dass wir dank unserer zahlreichen Distributionskanäle die unterschiedlichen Zielgruppen erreichen können.
Nach dem Stellenabbau vor einem Jahr hat sich 20 Minuten «auf den journalistischen Kern» konzentriert. Wie sieht man das dem Produkt an?
Pomper: Unabhängig vom Stellenabbau haben wir uns wieder stärker auf unseren Ursprung zurückbesonnen. Wir stehen publizistisch für News, Unterhaltung und Inspiration. Wann immer jemand 20 Minuten besucht, soll er neben Nachrichten auch gute, unbeschwerte Momente erleben. Das ist auch in Anbetracht der wachsenden News Fatigue zentral. Zudem überlegen wir uns aufgrund des knappen Zeitbudgets unserer Userinnen und User noch stärker: Ist mein Text oder mein Video wirklich die Zeit meiner Leserinnen und Leser wert? Wir wollen, dass unser Publikum in kurzer Zeit maximal informiert ist. Das bedingt eine kompakte, strukturierte Aufbereitung der Texte in einer leicht verständlichen Sprache, oft kombiniert mit eingängigen Visualisierungen.
Da sich 20 Minuten ausschliesslich mit Werbung finanziert, sieht man entsprechend viele kommerzielle Formate. Wie gross ist das Verständnis und die Akzeptanz dafür beim Publikum?
Pomper: Ja, 20 Minuten finanziert sich rein über Werbung und Sponsored Content. Das ist dem Publikum bewusst und wir erhalten kaum negative Rückmeldungen. Unsere Sponsored-Content-Formate werden durch unser Commercial-Publishing-Team zielgruppengerecht aufbereitet und finden guten Anklang. Wichtig ist da – sowohl den Nutzerinnen und Nutzern als auch uns als Unternehmen – die transparente Deklaration.
«Wir sind der Partner in Crime für die Werbetreibenden»
Bernhard Brechbühl, bei 20 Minuten können die steigenden Digitalumsätze die sinkenden Printumsätze nicht kompensieren. Ist die reine Werbefinanzierung eine tickende Zeitbombe?
Brechbühl: Mit Bomben kenne ich mich nicht aus, dafür mit Marketing. Für die Medien gilt: Es reicht nicht mehr, wenn wir wie früher einfach Media-Probleme lösen – also eindimensional Werbeeinblendungen verkaufen. Wir müssen in den verlässlichen und wirkungsvollen Umfeldern von 20 Minuten für unsere Kunden starke Kommunikationslösungen bauen – und auch verrückte Ideen umsetzen. Wir sind der «Partner in Crime» für die Werbetreibenden. So können wir gemeinsam echte Marketingherausforderungen meistern und damit einen Mehrwert für die Gesellschaft schaffen. Das geht aber nur, wenn wir bei 20 Minuten Inhalt, Produkt und Vermarktung aus einem Guss anbieten. Als One Team sind wir am erfolgreichsten: Darum holen wir die Vermarktung per 1. Januar 2025 zurück zu 20 Minuten. Wir haben in den letzten Monaten dafür unter der Co-Leitung von Chief Revenue Officer Giovanni Cauterucci und Chief Commercial Officer Mehmet Inan ein mehr als 50-köpfiges Team zusammengestellt, mit Top-Leuten in allen relevanten Bereichen. Sie sind bereits voller Tatendrang im Schweizer Werbemarkt unterwegs.
Lange Zeit konnte man den Eindruck gewinnen, 20 Minuten sei ein Selbstläufer, eine unsterbliche Cashcow. Im Herbst 2023 wurde das Bild korrigiert – 20 Minuten hat 35 Stellen abgebaut, um Kosten zu senken. War das eine Ausnahme oder der Anfang einer neuen Normalität?
Brechbühl: Mit dem Schritt in die Eigenvermarktung ist unternehmerische Zuversicht angesagt. Sollten andere Kräfte stärker sein als wir, braucht es auch in Zukunft Anpassungen.
Welche Entwicklungen bedrohen das Geschäft am stärksten?
Brechbühl: Big Tech und die SRG, die sich hemmungslos im digitalen Raum ausbreitet, nehmen die Medien arg in die Zange. Big Tech muss regulatorisch verpflichtet werden, die Nutzung unserer Inhalte angemessen zu vergüten. Die SRG sollte sich auf Radio und Fernsehen konzentrieren und ihre üppigen Mittel nicht für digitale Angebote in Konkurrenz zu den privaten Medien einsetzen. Wenn sie nicht von sich aus Rücksicht nimmt, wie es in der Bundesverfassung steht, muss die Medienpolitik das öffentlich-rechtliche Angebot einschränken.
«Die Verifizierung aller Inhalte vor Publikation hat oberste Priorität»
Désirée Pomper, wie sieht das Verhältnis von 20 Minuten zu den Social-Media-Plattformen aus? Wo grenzen Sie sich ab, wann machen Sie mit, was übernehmen Sie?
Pomper: Dank eines Teams, das in der Social-Media-Welt zu Hause ist, können wir gesellschaftliche Trends schneller als alle anderen thematisieren, was zu einer hohen Glaubwürdigkeit in der jungen Zielgruppe führt. Gleichzeitig ist der ganzen Redaktion bewusst, wie viele Fake News auf Social Media verbreitet werden. Die Verifizierung aller Inhalte vor Publikation hat oberste Priorität.
Seit dem Start 1999 hat sich 20 Minuten als eine der stärksten Marken in der Schweizer Medienlandschaft etabliert und sich von der Pendlerzeitung zur umfassenden Plattform entwickelt. Wohin bewegt sich 20 Minuten in den nächsten 25 Jahren?
Pomper: Mit Social Media und KI werden sich unverifizierte und falsche Inhalte explosionsartig weltweit verbreiten. Das kann zu einem gesellschaftlichen und politischen Sicherheitsrisiko werden. Die Aufgabe von 20 Minuten wird mehr denn je sein, dank journalistischer Arbeit aufzuzeigen, welche Inhalte, Bilder und Videos wahr sind und welche nicht. Faktenchecks werden noch wichtiger werden. Glaubwürdigkeit und Vertrauen sind zentral für unseren Brand, wollen wir langfristig bestehen und uns vom Social-Media-Wild-West differenzieren. Zudem bewegt sich 20 Minuten immer dorthin, wo die Menschen sind und erschliesst auch immer neue Kanäle.
Brechbühl: Was 20 Minuten geschafft hat, habe ich so noch nirgends auf der Welt gesehen. Wir sind mit täglich rund 4,5 Millionen Visits die mit Abstand führende digitale Newsmarke der Schweiz und mit 1,3 Millionen Print-Leserinnen und -Lesern dreimal grösser als die Nummer 2 bei den Tageszeitungen. Besonders bemerkenswert ist auch: Die allermeisten Visits kommen durch direkte Besuche auf unserer App und Webseite zustande. Obwohl wir auch auf Social Media oder in Suchmaschinen sehr präsent und erfolgreich sind: 20 Minuten ist eine echte Destinationsmarke. Herzlichen Dank an alle Nutzerinnen und Nutzer für diese Treue und starke Identifikation mit uns! Herzliche Gratulation und Dank an alle aktuellen und früheren Teammitglieder für diese weltmeisterliche Leistung. Das ist der Nährboden für unsere weitere Entwicklung. Unser Anspruch bleibt, dass die Schweiz auch in den nächsten 25 Jahren ein Land der 20-Minuten-Kinder ist. Das schaffen wir, wenn wir die präsenteste Medienmarke bleiben, nicht von unseren Markenwerten abweichen und sowohl die starke Beziehung zur Nutzerschaft und Kundschaft als auch die Angebote und Erlösmöglichkeiten mutig und konsequent weiterentwickeln.
Zum Schluss die obligate Frage: Wie lange gibt es 20 Minuten als gedruckte Zeitung?
Brechbühl: Keine weiteren 25 Jahre mehr. Zumindest nicht so, wie wir sie heute kennen. Aber der Zauber von 20 Minuten bleibt – auf jedem Kanal, der schon da ist oder noch kommen möge.
Bernhard Brechbühl und Désirée Pomper haben die Fragen auf eigenen Wunsch schriftlich beantwortet.
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12.12.2024 09:27 Uhr