23.09.2024

20 Minuten

Fake-Leser und erfundenes Eigenlob für 3,2 Millionen Haushalte

In der breit gestreuten Ausgabe zum 25. Geburtstag präsentierte die Gratiszeitung kürzlich Testimonials von erfundenen Lesern. Redaktionsmitglieder hatten Figuren mit KI generiert. Chefredaktorin Désirée Pomper sieht darin «einen isolierten Vorfall».
20 Minuten: Fake-Leser und erfundenes Eigenlob für 3,2 Millionen Haushalte
«Mein Vertrauen in die Redaktion ist auch nach diesem Fall, der ein absoluter Einzelfall ist, ungebrochen hoch»: Désirée Pomper, Chefredaktorin 20 Minuten. (Bild: 20min/Marco Zangger)

«Wir publizieren keine fotorealistischen Bilder, die von einer KI erzeugt wurden.» Das steht unter Punkt 1.8 in den publizistischen Leitlinien von 20 Minuten. Doch genau das haben zwei Mitglieder der Redaktion kürzlich getan. In der Ausgabe zu ihrem 25-jährigen Jubiläum veröffentlichte die Gratiszeitung eine Seite mit neun Porträtbildern und Aussagen von Leserinnen und Lesern, die in einem kurzen Statement formulierten, warum sie 20 Minuten lesen. Der Haken: Zwei davon sind keine realen Personen.

Wie sich 20 Minuten gerne selbst sieht

Prominent im Bild, als Aufmacher oben auf der Seite, sieht man «Darrell (23)». Ein junger Mann, Typ Latino, mit Goldkettchen und offenem Hemd sitzt vor einem Bergsee. Das Testimonial zum Bild liest sich ziemlich genau so, wie sich 20 Minuten selbst gerne sieht: «Ich schätze 20 Minuten, weil die Berichterstattung neutral und sachlich ist. Dadurch fühle ich mich gut informiert und kann mir meine eigene Meinung bilden, ohne das Gefühl zu haben, in eine bestimmte Richtung gedrängt zu werden.» Neben «Darrell (23)» steht etwas kleiner das Porträtbild von «Remo (28)». Wäre er eine reale Person, hätte er vermutlich Verwandte mit asiatischer Herkunft. Das zumindest scheint das Bild suggerieren zu wollen. Ihn zitiert das Blatt mit der Aussage: «Mit 20 Minuten weiss ich immer, was los ist. Schnell und easy – danke!»

Wer die Zeitungsseite mit den Jubiläumstestimonials nur überfliegt, braucht nicht zwingend zu bemerken, dass zwei der sieben Bilder Fake sind. Bei einem zweiten Blick könnte man hingegen Verdacht schöpfen. Genau das hat Benjamin Zeliska getan. Am vergangenen Freitag schrieb er auf der Plattform X (vormals Twitter): «20min.ch hat seine Leser befragt und hat sogar Antworten von Personen, die gar nicht existieren. Die Person ‹Remo (28)› ist KI-generiert.» Der 29-jährige Medizinaltechniker und 20-Minuten-Leser sah sich beim Anblick von «Remo (28)» stark an Porträtbilder erinnert, die mit künstlicher Intelligenz generierte wurden, wie man sie etwa auf der Site ThisPersonDoesNotExist.com sieht. Den ultimativen Beweis hatte er nicht in der Hand, aber einen starken Verdacht und ein paar Indizien, wie etwa die Bildauflösung und das etwas komische Ohr.

«Fundamentaler Verstoss gegen publizistische Leitlinien»

Am Montag reagierte 20 Minuten und bedankte sich bei Zeliska für den «wertvollen Hinweis». In einer öffentlichen Stellungnahme in der Zeitung und auf der Website bestätigt Chefredaktorin Désirée Pomper den Verdacht und bittet die Leserinnen und Leser um Entschuldigung. Von der Aktion mit den Fake-Porträts und dem erfundenen Statement habe weder die Chefredaktion noch die Redaktionsleitung etwas gewusst. Sie sei ein «fundamentaler Verstoss gegen unsere publizistischen Leitlinien». Die Fake-Bilder und das erfundene Testimonial wurden aus dem Onlineartikel entfernt.

Über die Motive der Autorschaft hinter den KI-Fakes kann man nur spekulieren. Tatsache ist, dass sämtliche Qualitätskontrollen versagten. Und das ausgerechnet in der Sonderausgabe zum 25-jährigen Jubiläum, die an 3,26 Millionen Haushalte in der Deutschschweiz verteilt wurde. Dass die Qualitätskontrollen versagten, will Chefredaktorin Pomper so nicht stehen lasen. «Wir haben Richtlinien, die im Unternehmen und auf der Redaktion bekannt sind und regelmässig geschult werden. Sensibilisierung und Kontrollen sind dabei wichtig. Das Vertrauen in die Mitarbeitenden aber ebenso», so die 20-Minuten-Chefredaktorin.

Gleichzeitig betont sie, dass es sich um einen isolierten Vorfall handle. «Wir sind mit den betroffenen Mitarbeitenden im Gespräch», erklärt Pomper. Man werde den Fall aufarbeiten und angemessene Massnahmen ergreifen. Was die beinhalten könnten, lässt Désirée Pomper offen. Wichtig sei es gewesen, in einem ersten Schritt die Leserschaft und die Mitarbeitenden transparent über den Fall zu informieren, «so wie es unserer Fehlerkultur entspricht».

Technische Massnahmen vorgesehen

Um das Risiko für solche Vorfälle zu minimieren, setzt 20 Minuten bereits heute auf obligatorische KI-Kurse für die Mitarbeitenden. Zum anderen prüft das Medienunternehmen auch technische Massnahmen, etwa Instrumente, die automatisch KI-generierten Content erkennen.

Chefredaktorin Pomper will den Fall nicht grösser machen als er ist. «Mein Vertrauen in die Redaktion ist auch nach diesem Fall, der ein absoluter Einzelfall ist, ungebrochen hoch.» Sie erlebe eine Redaktion, «welche die Glaubwürdigkeit hochhält, lebt, zelebriert und stolz darauf ist», so Pomper zu persoenlich.com.

Anmerkung: In einer früheren Version, die mit dem Newsletter vom 24. September verschickt wurde, stand im Titel «4,6 Millionen Haushalte». Die deutschsprachige Auflage mit den KI-generierten Testimonials ging aber nur an 3,26 Millionen Haushalte. Wir haben den Titel entsprechend korrigiert.


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KOMMENTARE

Christoph Schütz
24.09.2024 08:46 Uhr
Fehler können passieren, und die Reaktion der 20-Minuten Chefredaktorin erscheint angemessen. Dass die Publikation eines mit KI erstellten, wie eine Fotografie aussehenden Bildes bei 20 Minuten "ein absoluter Einzelfall" bleiben wird, bleibt jedoch Wunschdenken. Erstens gibt es keine Instrumente, die automatisch KI-generierten Content erkennen, oder dann höchstens schlecht gemachten KI-Content. Zweitens bieten Bildagenturen heute auf denselben Plattformen echte Fotografien und fotorealistische KI-Bilder gleichzeitig an, das heisst, die Bildredaktionen, die mit guter Absicht eigentlich echte Fotografien suchen und zu finden meinen, werden - hektischer Redaktionsalltag sei Dank - künftig unbeabsichtigt KI-Bilder publizieren und damit die Leserschaft täuschen. Dies ist für das Vertrauen in die Medien fatal. Deshalb führt meines Erachtens nichts daran vorbei, echte Fotografien künftig als solche zu kennzeichnen und unter jeder Fotografie die AutorInnen zu nennen. Und die FotografInnen und Agenturen, die Bilder an Informationsmedien übermitteln, müssen sich ihrerseits verpflichten, dass diese Bilder ohne KI entstanden sind. Das vereinfacht das Leben der Bildredaktionen sicher nicht, doch würden Redaktionen, die eine solche Deklaration vornehmen, das Vertrauen der Leserschaft zurückgewinnen. Gemäss einer Umfrage des Reuters Institute beträgt in der Schweiz das Vertrauen in die Medien aktuell noch 41%, vor drei Jahren lag es noch bei 50%.

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