Oksana Brovko, Sie und eine Gruppe von Managerinnen lokaler Medien haben kürzlich verschiedene Medienhäuser in der Schweiz besucht. Was war der Anlass?
Es war eine inspirierende Woche in Ihrem friedlichen Land. Anlass war eine Studienreise, die wir, der Verband der unabhängigen Regionalverlage der Ukraine, für unsere weiblichen Führungskräfte organisiert haben. Auf der einen Seite haben wir viele berufliche Erfahrungen gesammelt, die wir in unseren regionalen Redaktionen umsetzen wollen. Auf der anderen Seite hatten wir alle die Chance, nachts ohne Raketenangriffe und Flugsirenen zu schlafen.
Gab es ein besonderes Highlight auf Ihrer Reise?
Wir hatten die Möglichkeit, uns mit unseren Schweizer Kollegen auf einer sehr menschlichen Ebene auszutauschen. Wir haben von ihrem Fachwissen in Bereichen wie KI, Engagement junger Zuschauer und digitale Transformation gelernt. Der Krieg hat zwar grundlegend andere Arbeitsbedingungen geschaffen, aber die Herausforderungen des Marktes sind die gleichen.
Wie wirkt sich die russische Invasion auf die Arbeit von Lokaljournalisten in der Ukraine aus?
Über 320 ukrainische Medien wurden seit dem Einmarsch geschlossen. Viele unserer Journalisten - sowohl Männer als auch Frauen - sind jetzt bei den Streitkräften. Unsere Journalisten arbeiten unter Raketenbeschuss, oft ohne Strom und Internet, unter schwierigen psychologischen Bedingungen. Ein Teil unserer regionalen Redaktionen ist besetzt, und die Journalisten wurden evakuiert. Viele der Medienbüros in der Nähe der Frontlinie wurden durch Raketen zerstört.
«Jede unserer Lokalredaktionen hat heute eine neue Position in ihrem Personalbestand - einen Journalisten, der Beerdigungen von Soldaten besucht.»
Wie hilft Ihr Verband in diesen Umständen?
Unser Verband stellte Sicherheitstrainings, Energieausrüstung und finanzielle Unterstützung bereit, damit die Journalisten ihre Arbeit fortsetzen können. Wir haben auch eine Versicherung für Teams organisiert, die von der Frontlinie berichten. Die Rettung des unabhängigen Lokaljournalismus während des Krieges ist von entscheidender Bedeutung für unsere Demokratie und heute das Hauptziel für mich und unseren Verband. Die Unterstützung des Produktionsprozesses von Inhalten in den regionalen Medien wird uns helfen, die Nachrichtenwüsten im Land zu vermeiden.
Was sind Ihre grössten Schwierigkeiten im Alltag?
In Kriegszeiten können Informationen nicht nur helfen, sondern auch schaden. Der grösste tägliche Kampf für ukrainische Lokalredaktionen besteht darin, den Spagat zwischen der Notwendigkeit zu informieren und dem Risiko, Schaden anzurichten, zu schaffen. Bei jeder Geschichte muss sorgfältig darauf geachtet werden, dass Bilder und Details nicht versehentlich dem russischen Militär helfen, Orte anzugreifen. Wir müssen das optimale Gleichgewicht zwischen informativer Berichterstattung und der Sicherheit der Leser finden. Diese ständige Selbstregulierung ist nun ein wesentlicher Bestandteil unserer täglichen Arbeit.
Wie geht es dabei den Journalistinnen und Journalisten?
Neben den journalistischen Herausforderungen gibt es persönliche Dilemmas. Bei Anschlägen müssen Journalisten entscheiden, ob sie ihren beruflichen Pflichten den Vorrang geben oder zum Schutz ihrer Familien eilen. Die meisten unserer Journalisten stehen ebenso wie andere Medienmitarbeiter unter psychischem Druck, sind durch die Kriegserlebnisse und die Arbeit mit den Opfern traumatisiert. Jede unserer Lokalredaktionen hat heute eine neue Position in ihrem Personalbestand - einen Journalisten, der Beerdigungen von Soldaten besucht und an einer persönlichen Geschichte eines gefallenen Soldaten arbeitet. In den letzten 1000+ Tagen haben wir viele Workshops zur psychologischen Unterstützung organisiert.
«Seit Februar 2022 haben wir rund 2400 russische Desinformationen identifiziert.»
Welche Rolle spielt der Lokaljournalismus in Zeiten des Krieges?
Im Moment ist der wichtigste Aspekt die Rettung von Leben. Unsere Journalisten produzieren lebenswichtige Informationen zu Themen wie der Evakuierung, dem Zugang zu Mobilfunknetzen in entvölkerten Städten und dem Auffinden von Bunkeranlagen und Orten mit sauberem Wasser. Darüber hinaus berichten regionale Journalisten über Themen wie die Veränderungen der städtischen Infrastruktur angesichts der weit verbreiteten Traumata und Verletzungen, die Herausforderungen der Kindererziehung in Kriegszeiten, humanitäre Belange und die wichtige Aufgabe, Desinformationen zu entlarven.
Gibt es durch die Invasion eine höhere Nachfrage nach Medien?
Die Nachfrage nach wahrheitsgemässen Informationen ist seit Beginn der Invasion sehr hoch. Social-Media-Plattformen wie Facebook, Instagram, TikTok und Telegram sind zwar wichtige Nachrichtenquellen für die Ukrainer, aber sie sind auch voller russischer Desinformationen - ein Problem, das unsere lokalen Nachrichtenredaktionen aktiv bekämpfen. Seit Februar 2022 haben wir rund 2400 russische Desinformationen identifiziert. Leider hat sich diese wichtige Arbeit nicht in einer Zunahme der Leserschaft, der Abonnements oder der Werbeeinnahmen niedergeschlagen.
«Wir setzten uns mit Kollegen verschiedener Medien in Europa in Verbindung, sammelten finanzielle Unterstützung, um Papier zu kaufen.»
Viele Leute sind aus der Ukraine geflüchtet. Wie wirkt sich das auf die Medien aus?
Seit dem 24. Februar 2022 sind rund 7 Millionen Menschen innerhalb des Landes in die sichereren Regionen migriert, und mehr als 7 Millionen Menschen haben die Ukraine verlassen und sind zu Flüchtlingen geworden. All diese Menschen waren Abonnenten unserer Zeitungen, die nun unsere Printmedien nicht mehr empfangen und lesen können, weshalb die Abonnementeinnahmen stark zurückgehen. Das schwache Vertriebssystem für die Zeitungen, die es noch gibt, hat ebenfalls Einfluss auf die Situation bei den Abonnements. In der letzten Zeit sind die Kosten dafür stark angestiegen - manchmal bis zu plus 90 Prozent.
Werden noch Zeitungen gedruckt?
Gleich zu Beginn der Invasion konnten die meisten unserer regionalen Redaktionen ihre Zeitungen wegen der grossen Papierkrise nicht drucken. Das meiste Papier kam zuvor aus Russland und Weissrussland, sodass nach dem 24. Februar alle Lieferungen eingestellt wurden. Wir setzten uns mit Kollegen verschiedener Medien in Europa in Verbindung, sammelten finanzielle Unterstützung, um Papier zu kaufen, und in den ersten zwei Jahren nach der Invasion lieferten wir das Papier für mehr als 12 ukrainische Regionalzeitungen als humanitäre Hilfe.
Wie sieht es aus mit den Werbeeinnahmen?
Das Gleiche gilt für die Werbeeinnahmen der regionalen Medien: Der grösste Teil davon stammt aus der lokalen Wirtschaft, von der ein grosser Teil geschlossen oder verlagert wurde. Die Anzeigeneinnahmen der lokalen Medien gingen also zurück. Erst in jüngster Zeit haben einige Verlage begonnen, das Anzeigenniveau der Vorkriegszeit wieder zu erreichen. Diese finanzielle Instabilität stellt eine ernsthafte Bedrohung für unabhängige Medien dar und macht sie anfällig für die Einflussnahme von Politikern, Oligarchen und Unternehmen. Daher ist eine nachhaltige Unterstützung durch Partner und Geber nach wie vor absolut notwendig.
«Die ukrainische Regierung unterstützt unsere regionalen Medien nicht. Und ich glaube, das ist in einer Kriegssituation besser für uns.»
Selbst in der friedlichen Schweiz haben die lokalen Medien finanziell zu kämpfen. Woher nehmen die ukrainischen Lokalmedien die Mittel, um ihre Arbeit fortzusetzen?
Für die ukrainischen Lokalmedien gibt es während des Krieges nur eine Möglichkeit zu überleben: die Unterstützung durch professionelle Medienorganisationen, nationale und internationale Partner und Spender.
Unterstützt die ukrainische Regierung die Medien finanziell?
Nein, die ukrainische Regierung unterstützt unsere regionalen Medien nicht. Und ich glaube, das ist in einer Kriegssituation besser für uns. Wir brauchen unabhängige Medien in den Regionen, die Nachforschungen anstellen und die lokalen Behörden durch Anti-Korruptionsuntersuchungen kontrollieren können, wir sollten stark und unabhängig von der Regierung sein. Während eine Menge finanzieller und humanitärer Unterstützung in die Regionen fliesst, sollten die Journalisten vor Ort diejenigen sein, die sie überprüfen und mögliche Korruption untersuchen.
Wie garantieren Sie die Unabhängigkeit der Medien?
Strategische institutionelle Unterstützung und Programme zum Aufbau von Kapazitäten für regionale Medien werden die Pressefreiheit und die Unabhängigkeit der Medien gewährleisten. Zusammen mit der Koordination lokaler und internationaler Medienexperten müssen wir ein System der strategischen Unterstützung für motivierte, unabhängige regionale Medien aufbauen und ihnen die Möglichkeit geben, ihre Qualitätsinhalte zu produzieren.
Was nehmen Sie von Ihrer Reise in die Schweiz mit nach Hause?
Nach unserer Reise denken wir über die Veränderungen im Geschäftsmodell unserer Medien nach, wie wir den jungen Traffic generieren und Chat GPT zur Optimierung der Arbeit in unseren Redaktionen nutzen können. In den nächsten Monaten werden wir einen praktischen Workshop mit Schweizer Experten zum Thema KI für die regionalen Journalisten in der Ukraine veranstalten. Ich hoffe sehr, dass die russischen Angriffe diese Pläne nicht zunichtemachen werden.