Thomas Knellwolf, Sie haben mit «Enttarnt» ein Sachbuch über Agententätigkeit in der Schweiz geschrieben. Wie kamen Sie auf dieses Thema?
Ich beschäftige mich seit über zehn Jahren journalistisch intensiv mit Geheimdienstaktivitäten in der Schweiz. Mit Kolleginnen und Kollegen aus dem Schweiz-Ressort des Tages-Anzeigers und vom Tamedia-Recherchedesk habe ich immer wieder Spionagefälle enthüllt. Darüber und über neue Fälle wollte ich einen Podcast machen. Als ich das Konzept dafür ausarbeitete, fand ich: Eigentlich sollte man ein Buch darüber schreiben. Also habe ich beides gemacht: Auf der Arbeit beim Tagi den Podcast «Unter uns: Spione in der Schweiz» – eine Spezialserie des täglichen Podcasts «Apropos» sowie privat das Buch «Enttarnt. Die grössten Schweizer Spionagefälle» im Wörterseh-Verlag.
Sie schreiben die Schweiz sei ein «Paradies» für Agentinnen und Agenten. Weshalb?
Einerseits gibt es viel zu holen – bei der Uno in Genf, der Fifa und den Banken in Zürich, bei der Pharma in Basel, beim Bund in Bern. Andererseits ist das Risiko, erwischt zu werden, gering: Die Schweizer Spionageabwehr umfasst rund 50 Personen. Das sind weniger als jene, die Russland als Agentinnen und Agenten unter Diplomatencover in der Schweiz stationiert hat.
«Es ist fast ein Vierteljahrhundert her, seit letztmals ein ausländischer Agent in der Schweiz vor Gericht gestellt und verurteilt wurde»
Sie schreiben, dass viele Fälle gar nicht geahndet würden. Woran liegt das?
Am politischen Unwillen. Es ist fast ein Vierteljahrhundert her, seit letztmals ein ausländischer Agent in der Schweiz vor Gericht gestellt und verurteilt wurde. In den 90er-Jahren erklärte die Schweiz noch regelmässig spionierende Diplomaten zu unerwünschten Personen. Seither hat sich eine grosse Zurückhaltung eingeschlichen. Das wird ausgenutzt – nicht nur von Russland, sondern beispielsweise auch von China oder den USA.
Gab es bei der Recherche gefährliche Situationen?
Richtig gefährlich wurde es zum Glück nie, doch es gab Situationen, die mir nicht gefielen. Als ich einen Schweizer Geschäftspartner eines chinesischen Spionageverdächtigen interviewte, hatte er meine Autorenbeschreibung und mein Porträt von der Tagi-Webseite vor sich ausgedruckt auf dem Tisch. Er sagte, er werde diese Infos weiterleiten und empfahl mir mehrfach, nicht über den Fall zu schreiben – was ich natürlich trotzdem tat. Mehr Sorgen als um mich mache ich mir um unsere ausländischen Partnerinnen und Partner, mit denen wir beispielsweise zu Russland recherchieren. Da gibt es manchmal Versuche, mit Fake-E-Mails über uns an diese wirklich gefährdeten Personen heranzukommen.
Was war für Sie der krasseste Fall?
Die Aggressivität der russischen Militäragenten, die ziemlich lang die Genfersee-Region als Rückzugsgebiet nutzten, dürfte schwer zu übertreffen sein. Ein eigentliches Killerteam führte Vergiftungen andernorts in Europa durch. Erst als wir uns anschickten, darüber zu berichten, setzte sich ein in der Schweiz akkreditierter Diplomat, der zu dieser Einheit gehörte, aus Genf nach Moskau ab.
«Unser Land verzichtet auf eine der effizientesten Methoden der Spionageabwehr: die Veröffentlichung»
Wieweit spielt die Schweiz bei aktuellen internationalen Konflikten wie dem Nahost- oder dem Ukrainekrieg eine Rolle?
Spionagemässig wird der Nahostkonflikt nicht in erster Linie in Europa ausgetragen, aber wenn im internationalen Genf darüber geredet wird, ist dies natürlich für Israel und die anderen Kriegsparteien interessant. Deshalb wurden auch vor einigen Jahren die westlichen Atomgespräche mit dem Iran über die Netzwerke von Westschweizer Hotels ausgeforscht. Im Ukrainekonflikt können Vermittlungsbemühungen wie die Bürgenstock-Konferenz Spionageziele sein. Ebenfalls versucht Russland, in der Schweiz Waffen und andere Güter zu beschaffen, die es wegen der Sanktionen nicht mehr legal bekommen kann.
Gab es bereits Reaktionen von öffentlichen Stellen auf Ihr Buch?
Ich erwarte da nicht allzu viel, denn die Schweizer Sicherheitsbehörden waren nicht kooperativ in der Recherchephase. Hintergrundgespräche waren keine möglich. Manchmal bin ich schon ein bisschen neidisch auf die Journalistinnen und Journalisten in Nachbarländern. Wenn der deutsche Generalbundesanwalt einen Spionageverdächtigen verhaftet, publiziert er eine Medienmitteilung und nennt nicht nur den Sachverhalt, sondern sogar die Vornamen und abgekürzten Nachnamen der Beschuldigten. In der Schweiz gibt es nichts dergleichen. Nur ein grosses Schweigen. Unser Land verzichtet auf eine der effizientesten Methoden der Spionageabwehr: die Veröffentlichung.
«Enttarnt. Die grössten Schweizer Spionagefälle» von Thomas Knellwolf
256 Seiten, Flexibler Einband, 29.90 Franken.
Erschienen im Wörterseh-Verlag.