Eine zusammengesparte Redaktion, die weiterhin mit einem vielfältigen und breiten Angebot ein zahlungsbereites Publikum erreichen will, steht vor der Herausforderung: Wie produzieren wir die dafür erforderliche Beitragsmenge mit weniger personellen Ressourcen? Eine mögliche Antwort liefert künstliche Intelligenz mit ihrer Fähigkeit, in Sekundenschnelle Textmaterial zu generieren. Diesen Weg wählt auch Tamedia.
«Eine grössere Varianz an Inhaltstypen»
Aktuell experimentiert der Tages-Anzeiger mit KI-generierten Zusammenfassungen von Interviews. Damit verfolgt die Redaktion zwei Ziele. Zum einen will sie mehr Onlinereichweite generieren, zum anderen bieten die automatisch erstellten Texte für die Produktion der gedruckten Zeitung «eine grössere Varianz an Inhaltstypen», wie es in einem internen Dokument steht, das persoenlich.com kennt.
Im Test-Setting werden die kurzen Lauftextderivate der langen Interviews auf bazonline.ch ausgespielt. Aus einem Gespräch mit Kulinarikautor Paul Imhof im Umfang von 12'000 Zeichen entsteht ein Artikel von noch 3000 Zeichen. Man wolle herausfinden, «inwieweit die geänderte Form die Reichweite steigern kann». Erste Ergebnisse, die Tamedia intern Ende Februar kommuniziert hat, scheinen diese Erwartung zu bestätigen. Die Zusammenfassungen, heisst es, würden von Google öfter und besser angezeigt als die Originalinterviews.
«Prozesse und Verantwortlichkeiten neu definiert»
Das Experiment ist im Kontext der jüngeren Entwicklung von Tamedia zu sehen mit dem Stellenabbau und der forcierten digitalen Transformation. «Mit der Neuaufstellung unserer Teams Anfang des Jahres haben wir nicht nur unsere Prozesse und Verantwortlichkeiten neu definiert, sondern auch unsere Möglichkeiten in der Publizistik erweitert, neue Ideen, Innovationen schnell in einem kleinen Rahmen zu testen – der ‹Interview-Transformer-Test› ist ein gutes Beispiel dafür», erklärt Simon Bärtschi, Leiter Publizistik bei Tamedia, auf Anfrage von persoenlich.com.
Trotz der erfreulichen ersten Ergebnisse stösst der «Interview-Transformer-Test» in der Redaktion auch auf Skepsis und Vorbehalte. Man stört sich insbesondere daran, dass die Zuhilfenahme künstlicher Intelligenz bei der Zusammenfassung der Interviews nicht deklariert wird. Tatsächlich steht unter den Lauftexten, die auf bazonline.ch erscheinen, kein Hinweis zu Ursprung und Entstehung dieser Artikel. Auch wird nicht systematisch auf das Interview verlinkt, damit sich interessierte Lesende bei der Quelle umfassender informieren könnten.
«Unser Qualitätsanspruch verändert sich nicht»
Die Zusammenfassungen seien nicht gekennzeichnet, «weil das Produkt nochmal von Redaktorinnen und Redaktoren geprüft wurde und wenn notwendig noch einmal von diesen adaptiert wurde», erklärt Nadia Kohler, die das AI Lab von Tamedia leitet. Und sie betont: «Unser Qualitätsanspruch verändert sich nicht, nur weil wir mit KI arbeiten und Innovationen vorantreiben wollen.» Das Vorgehen bei den KI-Zusammenfassungen entspricht zudem den Leitlinien von Tamedia, die das Unternehmen Anfang 2024 veröffentlichte. Dort steht, «dass künstliche Intelligenz nur in unterstützender Form zum Einsatz kommen soll» – wie das im aktuellen Experiment der Fall ist. Deklariert wird der KI-Einsatz nur dann, wenn er in Ausnahmefällen ohne menschliche Kontrolle erfolgt.
Das aktuelle Vorgehen von Tamedia steht im Widerspruch zum Leitfaden «KI im Journalismus» des Schweizer Presserats. Dieser postuliert: «Inhalte, die mithilfe eines KI-Programms erstellt wurden, sind als solche zu kennzeichnen. Der Presserat empfiehlt diesbezüglich grösstmögliche Transparenz. Redaktionen sollten explizit angeben, wo und wie sie KI-Instrumente einsetzen.» Ursina Wey, Geschäftsführerin des Presserats, erklärt auf Anfrage, dass diese Empfehlung nicht direkt auf eine Bestimmung aus dem Journalistenkodex verweise. «Wir haben uns vorgenommen, den KI-Leitfaden einer Überprüfung zu unterziehen, um insbesondere auch in den Fragen Transparenz und Deklarationspflicht eine weitere Klärung herbeizuführen», teilt Wey weiter mit. Gleichzeitig sei beim Presserat bisher noch keine Beschwerde zum Thema KI eingegangen.
Kein Etikett, das die Leute vom Zahlen abhält
Für Verlage gibt es zudem einen geldwerten Grund, die Verwendung von KI nicht allzu offensiv zu deklarieren. Wie eine Vertiefungsstudie zum Jahrbuch «Qualität der Medien» gezeigt hat, steht das Publikum der Verwendung von KI im Journalismus «sehr kritisch» gegenüber. Das äussert sich zum einen in der Erwartung, dass der Einsatz von KI zur Generierung journalistischer Inhalte transparent deklariert werden sollte. Zum anderen sinkt die in der Schweiz ohnehin schon tiefe Zahlungsbereitschaft, wenn KI ins Spiel kommt. Wenn nun Tamedia KI genau dafür einsetzt, um sein kostenpflichtiges Angebot attraktiver und vielfältiger zu gestalten, kann man es ihnen nicht verübeln, wenn sie kein Etikett daran hängen, das die Leute vom Zahlen abhält.