Hans-Peter Nehmer, als erfahrener Kommunikationschef: Was hat Sie persönlich in den letzten Jahren am meisten überrascht oder aufgerüttelt in der Kommunikationslandschaft?
Die zunehmende Abstinenz grosser Teile der Bevölkerung von Qualitätsmedien einerseits und der Ressourcenmangel in den Redaktionen andererseits. Als ehemaliger Medienschaffender schmerzt mich das, als Bürger bereitet es mir Sorge.
Am SwissMediaForum vom Donnerstagnachmittag haben Sie von einer «Zeitenwende» in der Kommunikation gesprochen. Was haben Sie und den HarbourClub dazu veranlasst, gerade jetzt das Grundsatzpapier «CCO Compass 2025» zu veröffentlichen?
Das 25-Jahre-Jubiläum des HarbourClubs scheint uns ein guter Zeitpunkt, um in die Zukunft der Unternehmenskommunikation zu schauen. Dabei wurde uns bewusst, welche Veränderungen durch die Digitalisierung stattfanden und uns noch bevorstehen. Die Mechanismen der Öffentlichkeit haben sich verändert und stellen neue kommunikative Herausforderungen an Unternehmensleitungen. Diese greifen wir im «CCO Compass» auf.
«Die Schweiz selbst steht besser da als viele andere Länder»
Der Kompass beschreibt, wie die Digitalisierung zunächst Kommunikationswege, dann Kommunikationsarenen und schliesslich die Öffentlichkeit als Ganzes verändert hat. Welche dieser Veränderungen würden Sie als die einschneidendste für Schweizer Unternehmen bezeichnen?
Die Schweiz selbst steht besser da als viele andere Länder und trotzdem ist sie eingebunden in das, was weltweit geschieht. Und dort ist es der Umgang mit der Wahrheit. Dass folgenlos gelogen werden kann und dass andererseits unbequeme Wahrheiten ohne Nachweis als «Fake News» bezeichnet werden, haben die Diskussionskultur in der Öffentlichkeit stark verändert und führen zu anderen Phänomenen wie Polarisierung und Fragmentierung und letztlich dem Vertrauensverlust in wichtige Institutionen.
Viele Unternehmen ringen mit der Frage, wie plakativ ihre Botschaften sein müssen. Wie gelingt dieser Balanceakt in der Praxis?
Das Plakative mag für das eine Unternehmen stimmig und sympathisch sein, für das andere hingegen schädigt es die Reputation. Der Begriff Authentizität mag abgedroschen klingen, aber an einer strategischen Auseinandersetzung mit der eigenen Identität führt kein Weg vorbei, wenn man eine klare Linie verfolgen will. Je turbulenter es im Umfeld ist, desto stärker gilt es, sich am Wesenskern des Unternehmens zu orientieren.
Wie können Unternehmen in einer Welt von Fake News für Glaubwürdigkeit sorgen?
Wir empfehlen in unserem «CCO Compass», auf Reisserisches oder Halbwahres zu verzichten, Kurs zu halten, Botschaften an den eigenen Werten auszurichten und mit der Öffentlichkeit in einen Dialog zu treten, bei dem man auf Transparenz und belegbare Fakten setzt. Organisatorisch sollten Chief Communications Officers (CCOs) die Aufgabe und die nötige Autorität erhalten, im Unternehmen die Verantwortung für die Aufrichtigkeit der Firmenkommunikation zu übernehmen.
Wann sollten Unternehmen zu gesellschaftlichen Themen Stellung beziehen? Können Sie Beispiele nennen, wo sich Haltungsbezug besonders beim Klimawandel, bei EU-Themen oder sozialen Fragen bewährt hat?
Es bewährt sich, immer dann Stellung zu nehmen, wenn das Thema für den Erfolg des Unternehmens von strategischer Bedeutung ist. Ein Unternehmen, dessen Überleben vom Handel mit der EU abhängt, sollte sich zu Wort melden. Wenn der Verzicht auf fossile Energie länger dauert, dann sollte das erklärt werden. Wenn die Verwendung von Gewinn zu einem Murren führt, ebenso. Unternehmen müssen sich vor allem gegenüber ihren Mitarbeitenden künftig aktiver erklären und der Ausgangspunkt dazu sollten immer die Unternehmenswerte und -strategie sein.
Wie kann die Transformation des CCO hin zu einer strategischen Funktion mit mehr Autorität in der Praxis gelingen?
Die Autorität ist kein Selbstzweck, sondern ist nötig, um die Reputation zu schützen und die Geschäftsleitungsmitglieder von den Risiken zu entlasten, die aus schönfärberischem oder allzu taktischen und opportunistischen Kommunizieren resultieren. Damit CCOs mit den Mitgliedern der Geschäftsleitung ein wirkungsvolles Team bilden, müssen sie sich mit ihnen auf Augenhöhe bewegen. Sie müssen ihr Handwerk beherrschen und persönliches Vertrauen mit ihnen und anderen Stakeholdern aufbauen.
«Die strikte Trennung von PR und Marketingkommunikation hat sich aufgelöst»
Der CCO soll künftig als «360-Grad-Stakeholder-Relations-Manager» agieren. Welche neuen Kompetenzen benötigen Kommunikationsverantwortliche dafür?
Ein gutes Verständnis für gesellschaftliche, wirtschaftliche und technologische Zusammenhänge. Dies wurde schon in den letzten 25 Jahren immer wichtiger für die Rolle. Die strikte Trennung von PR und Marketingkommunikation hat sich aufgelöst, Kommunikation nach innen wurde bedeutender, tendenziell auch die Kommunikation in politischen Kontexten. Der Umgang mit mehreren Dilemmata gleichzeitig, in grosser Geschwindigkeit und Unübersichtlichkeit, gewinnt an Bedeutung. Die Anforderung an die Rolle wird dadurch strategischer.
Wie realistisch ist eine konsistente Kommunikation angesichts fragmentierter Märkte und der Mehrsprachigkeit in der Schweiz?
Es ist anspruchsvoll, keine Frage. Mit einer klaren Firmenerzählung, die sich an den Purpose des Unternehmens sowie an den strategischen Schwerpunkten ausrichtet, mit Disziplin und mit einem Prozess, in dem Kernbotschaften festgelegt werden, ist es möglich. Die heutige Generation der Firmen-Newsrooms oder die konsequente Umsetzung des integrierten Kommunikationsansatzes hilft dabei.
Was genau macht «faktenbasiertes Storytelling» aus, wie es im Bericht heisst? Sind nicht alle Corporate-Stories ohnehin faktenbasiert?
Wenn Sie das so sehen, dann widerspreche ich nicht. Das, was kommuniziert wird, muss nachvollziehbar und wahrheitsgetreu sein.
«Die ganz grosse Welle an Arbeitsmitteln, die KI einsetzen, steht noch bevor»
Welche konkreten KI-Anwendungen sehen Sie heute schon in der Unternehmenskommunikation und wie verändert das die Teams?
KI ist schon in vielen Firmenanwendungen integriert und täglich kommen mehr dazu. Die ganz grosse Welle an Arbeitsmitteln, die KI einsetzen, steht aber noch bevor. Heute wird in der Unternehmenskommunikation vermutlich bei Texterstellung sowie Übersetzungen KI am regelmässigsten genutzt. In der Zukunft werden die Auswertung von Daten und das Durchspielen von Szenarien grosses Potenzial bringen und KI wird noch viel strategischer als bisher eingesetzt werden. Dort, wo heute schon der Schwerpunkt auf den Einsatz von psychologischem und soziologischem Verständnis, auf Strategie, Empathie und Kreativität in der Kommunikation gelegt wird, wird sich im Kern wenig verändern.
Der «CCO Compass 2025» wurde zum 25-Jahre-Jubiläum des HarbourClubs erstellt. Wenn Sie 25 Jahre in die Zukunft blicken: Wie wird die Rolle des CCO im Jahr 2050 aussehen?
CCOs haben sich mit ihrem Verantwortungsbereich endgültig aus der internen Dienstleisterrolle – der «Servicefalle» – herausbewegt und übernehmen auf Ebene der Geschäftsleitung die Verantwortung für die wahrheitsgetreue Gesamtkommunikation. Es wird dann immer noch darum gehen, Legitimation und Aufmerksamkeit für das Unternehmen zu gewinnen, von dessen Leistungen und Angeboten zu überzeugen und das Vertrauen zu sichern.
Abschliessend: Was ist Ihre persönliche Kernbotschaft an die Kommunikationsverantwortlichen in der Schweiz? Was sollten sie ab morgen anders machen?
Wir müssen uns ständig weiterbilden, um auf der Höhe des Geschehens zu sein.