Jürg Vollmer, mit «Countryside» wollen Sie Konsumentinnen und Stimmbürger ansprechen, die mehr über die Landwirtschaft und Ernährungswirtschaft wissen möchten. Gibt es dafür nicht schon genügend andere Medien, die das tun?
In den Schweizer Publikumsmedien gibt es leider kaum noch Journalisten, die sich auf die Landwirtschaft spezialisieren können. Dasselbe gilt für viele andere Fachbereiche auch und ist angesichts der radikal verdünnten Redaktionen nur logisch. Das Resultat ist ein Informationsdefizit.
Woran machen Sie dieses Informationsdefizit fest?
Das zeigt sich zum Beispiel darin, dass Journalisten die Schweizer Kartoffelbauern für den Pflanzenschutzmittel-Einsatz kritisieren. Dass aber mangels genehmigter Pflanzenschutzmittel 2022 und 2023 ein grosser Teil der Schweizer Kartoffelernte ausgefallen ist und 2024 wohl wieder ausfällt, das wissen sie nicht. Und sie wissen auch nicht, woher dann die Kartoffeln für unsere Pommes frites und Rösti kommen. Unter anderem aus Ägypten. Das ist aus drei Gründen unverantwortlich: Weil in Ägypten kübelweise krebserregende Pflanzenschutzmittel eingesetzt werden, wegen der hirnrissigen Transportdistanz und weil wir Schweizer diese Kartoffeln den Ägyptern wegessen.
«Wenn der eine oder andere Journalist ‹Countryside› liest, umso besser»
Mit wie vielen Abos rechnen Sie?
Wenn der Newsletter irgendwann einmal 5000 Abonnenten hat, von denen 1000 das Monatsabonnement von fünf Franken bezahlen, dann ist das für mich schon das höchste der Gefühle. Und wenn der eine oder andere Journalist «Countryside» liest und sich davon inspirieren lässt, umso besser.
Wollen Sie auch ein Publikum ausserhalb der Schweiz ansprechen?
Wenn «Countryside» bis Ende 2026 eine tragende Basis hat, dann kann ich auf unsere deutschsprachigen Nachbarländer skalieren. Ich denke mit dem Projekt «Countryside» also langfristig.
Gibt es ein Vorbild für «Countryside»?
Mein Vorbild ist «Letters from an American» der US-Historikerin Heather Cox Richardson mit 1,3 Millionen Abonnenten, davon rund 20 Prozent zahlende Abonnenten. Mir ist natürlich klar, dass der deutschschweizerische Lesermarkt für «Countryside» 55-mal kleiner ist als jener der USA. Sogar über 200-mal kleiner, wenn drei Viertel der Leser von «Letters from an American» ausserhalb der USA leben.
Welches Bild der Landwirtschaft wollen Sie vermitteln?
Sicher kein idealisiertes Bild, wie in der Werbung mit der übermotivierten Legehenne, die in die Migros-Filiale hüpft und dort ihr Ei präzise in den Eierkarton legt. Ich werde zeigen, wie die Legehennen nach einem Produktionsjahr vergast und kompostiert werden, weil die Schweizer Konsumenten deren Fleisch nicht essen wollen.
«Ich will das Positive zeigen, ohne das Negative zu verstecken»
Wie setzen Sie das journalistisch um?
Ich werde auf der einen Seite zeigen, wie die Legehennen nach einem Produktionsjahr vergast und kompostiert werden, weil die Schweizer Konsumenten deren Fleisch nicht essen wollen. Auf der anderen werde ich einen Landwirtschaftsbetrieb porträtieren, der alle seine Legehennen nach ihrem Produktionsjahr schlachtet und in seinem Hofladen erfolgreich verkauft. Also das Positive zeigen, ohne das Negative zu verstecken.
Seit dem 1. Juli arbeiten Sie als Projektleiter digitale Medien beim Zürcher Bauernverband ZBV. Warum lancieren Sie nun als Privatperson einen Newsletter, der thematisch auch ganz gut zum publizistischen Angebot des ZBV passen würde?
Den «Countryside»-Newsletter habe ich schon im Herbst 2023 aufgegleist. Ich war 62 Jahre alt und überlegte mir, wie ich als Chefredaktor bis zum Rentenalter 65 einen sanften Übergang und eine interessante Aufgabe für danach gestalten kann. Dass man mich als Chefredaktor kurz vor der Rente ohne nachvollziehbare Begründung kaltschnäuzig entlässt, war nicht geplant. Dass ich jetzt für gut zwei Jahre zwei Hüte trage, ist zugegeben nicht die eleganteste Lösung. Aber solange ich es klar deklariere, scheint es mir vertretbar. Ausserdem konzentriert sich der Zürcher Bauernverband auf den Kanton Zürich, während ich im Newsletter die Landwirtschaft auf nationaler Ebene und darüber hinaus betrachte.
Sie haben in Ihrer langen Karriere für die unterschiedlichsten Medien gearbeitet, zuletzt als Chefredaktor des Fachmagazins für die Landwirtschaft «Die Grüne». Wie fanden Sie zum Agrarjournalismus?
Das war ein ziemlich langer Umweg. Als ich 1984 die ersten MAZ-Kurse besuchte, wollte ich Wissenschaftsjournalist werden. Irgendwie hat das aber nie geklappt – bis ich 2017 Chefredaktor von «Die Grüne» wurde, dem Fachmagazin für die Schweizer Landwirtschaft.
Den Schriftzug von «Countryside» ziert ein Traktor und nicht etwa eine Kartoffel oder eine Milchkuh. Wofür steht das Fahrzeug?
Das ist eine Frage, die nur ein nicht bäuerlicher Journalist stellen kann (lacht laut). Ein Härdöpfel und eine Milchkuh sind schön und gut – aber die Schweizer Landwirtschaft wird ohne High-Tech-Traktoren und ohne GVO, GPS und all die anderen Dreibuchstaben-Technologien niemals eine Schweiz mit zehn Millionen und noch mehr Einwohnern ernähren können. Damit sind wir wieder am Anfang: Die nicht bäuerlichen Schweizer wissen, wie man bei AliExpress aus China oder Amazon aus den USA ein Paket bestellt. Sie haben aber keine Ahnung, wie das Essen vom Bauernhof aus dem Berner Seeland, aus der Innerschweiz oder dem Bündnerland auf ihren Teller kommt. Wenn der «Countryside»-Newsletter das mit einem anschaulichen und lebendigen, emotionalen und unterhaltsamen Agrarjournalismus ändern kann, dann ist schon viel erreicht.
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07.08.2024 16:07 Uhr