Rico Bandle, bald jährt sich der erste Jahrestag des Hamas-Massakers. Sie haben soeben Marian Baharav in Israel besucht, die Ex-Frau eines der zwei Schweizer Opfer. Wie kam es zu dieser Begegnung?
Nach dem Terrorangriff vom 7. Oktober teilte die Schweizer Botschaft in Israel mit, dass sich unter den Toten zwei Schweizer Staatsbürger befinden. Ich machte die Namen ausfindig und nahm für einen Artikel mit Angehörigen beider Opfer Kontakt auf. Mit Marian Baharav hatte ich einen besonders intensiven Austausch. Trotz des Kriegs, der damals schon begonnen hatte, schwärmte sie von Israel und sagte, ich solle sie doch einmal besuchen kommen, um mir selbst ein Bild zu machen. Der Jahrestag des Terrorangriffs war ein guter Anlass, dies umzusetzen.
Marian Baharav ist in Baden aufgewachsen, lebt aber seit 28 Jahren in Israel. Wie geht es ihr heute?
Sie macht einen gefassten Eindruck. Sie war bei meinem Besuch sehr kommunikativ – vielleicht hat sie sich einfach gefreut, endlich wieder mal viel Schweizerdeutsch sprechen zu können. Ihren eigenen Schmerz redet sie klein, lieber spricht sie darüber, was andere durchgemacht haben. Sie leidet vor allem auch darunter, dass ihre zwei Kinder so weit weg sind. Die beiden studieren in den USA und in Kanada, kamen aber nach dem 7. Oktober zur Beerdigung ihres Vaters zurück nach Israel.
Baharav lebt in der Hafenstadt Aschkelon, der meistbombardierten Stadt Israels, nur 14 Kilometer vom Gazastreifen entfernt. Wie äussert sich das?
Auf den ersten Blick merkt man wenig: Aschkelon liegt direkt am Mittelmeer, hat einen wunderbaren Strand und eine Hafenpromenade mit Restaurants. Es gab aber Zeiten, da ging in der Stadt mehrmals täglich der Raketenalarm los, jetzt vielleicht noch ein oder zwei Mal pro Woche. Wegen der Nähe zum Gazastreifen hat man bei Alarm nur 30 Sekunden Zeit, um in einen Schutzraum zu gelangen. Das prägt die Menschen. Worüber man als Schweizer staunt: Zwar hat in Israel fast jede Wohnung einen eigenen Schutzraum – mit unseren Luftschutzkellern sind diese allerdings nicht zu vergleichen. Es sind bloss Zimmer mit verstärkten Wänden und Fenstern. Diese befinden sich zumeist nicht einmal im Keller, denn die Mehrheit der Gebäude ist gar nicht unterkellert. In der sicheren Schweiz hat man also die viel besseren Schutzvorrichtungen als in Israel, wo ständig Bomben fliegen.
«Eine solche Einstellung hinterlässt kaum Zuversicht, dass ein friedliches Zusammenleben in absehbarer Zukunft möglich sein wird.»
Sie reisten zur Stelle, wo Adi Baharav vor einem Jahr umgebracht wurde. Wie war das für seine Ex-Frau? Wie war das für Sie?
Das Dorf Netiv HaAsara, wo Adi Baharav von einer Handgranate getötet wurde, liegt direkt an der Grenzmauer zu Gaza. Bei unserem Besuch herrschte eine gespenstische Stille. Viele Häuser sind verlassen, erst ein Drittel der Bevölkerung ist zurückgekehrt. Marian Baharav wusste von jedem Haus, wer darin auf welche Art getötet wurde. Was mich vor allem beeindruckte – und auch etwas fürchten liess: Am Strassenrand stehen etwa alle 50 oder 100 Meter kleine Unterstände aus Beton, die man bei Raketenalarm sofort aufsuchen soll. Man hat nur wenige Sekunden Zeit, muss im Notfall also sofort losrennen. Da fragt man sich schon: Wer will so leben?
In Ihrer Reportage zeigt sich Marian Baharav unversöhnlich, sie hat kein Mitleid mit der Bevölkerung in Gaza. Fanden Sie das nicht befremdlich?
Doch. Für jemanden aus der Schweiz, der noch nie Terror oder Krieg erlebt hat, ist das natürlich sehr befremdlich. Bei uns ist es auch Tabu, sich über den Tod eines Menschen zu freuen, selbst wenn dieser ein Monster war. Marian Baharav aber schrieb mir freudig eine WhatsApp-Nachricht, als die israelische Armee den Hamas-Kommandanten tötete, der den Angriff auf Netiv HaAsara geleitet hatte. Diese Unversöhnlichkeit zu transportieren, war mir wichtig, ohne darüber zu urteilen. Denn solche Aussagen zeigen auf, was ein Ereignis wie das Hamas-Massaker mit Menschen macht. Eine solche Einstellung hinterlässt aber auch kaum Zuversicht, dass ein friedliches Zusammenleben in absehbarer Zukunft möglich sein wird.
«Ich hatte das Gefühl, dass trotz – oder gerade wegen der Krise – ein grosser Zusammenhalt in Israel besteht.»
Wie beurteilen Sie nach Ihrem Besuch die ganze Situation in Israel? Wie geht es den Leuten?
Ich war nur eine Woche dort, für eine gültige Beurteilung ist das wohl zu wenig. Was mich aber fasziniert hat: Obschon das Land politisch tief gespalten ist, gibt es doch eine grosse Klammer: die Liebe zum Land, die überall zum Ausdruck kommt. An den riesigen Kundgebungen gegen die Regierung schwenken auch linke Demonstranten stolz Israel-Fahnen. Viele hippe Restaurants und Bars im Ausgehviertel von Tel Aviv haben einen grossen Aufkleber an der Eingangstür angebracht, um ihre Solidarität mit den Geiseln zu zeigen. Ich hatte das Gefühl, dass trotz – oder gerade wegen der Krise – ein grosser Zusammenhalt besteht.
Wie gefährlich ist es für einen Journalisten momentan, nach Israel zu reisen?
Ich empfand es nicht als gefährlich, ich war aber auch nicht im Norden, wo zurzeit die Kämpfe stattfinden. Angst hatte ich vor allem davor, dass ich nicht mehr zurückkomme, sollte die Fluggesellschaft erneut die Flüge einstellen. Zum Glück war mein Rückflug kurz vor dem Pager-Anschlag gegen die Hisbollah, denn danach setzte die Swiss den Flugbetrieb von und nach Tel Aviv wieder aus. Ein Taxifahrer in Jerusalem sagte, ich solle mich einfach bei ihm melden, sollte ich nicht wegkommen. Er fahre mich dann gerne in die jordanische Hauptstadt Amman, von dort komme man immer weg. Ich habe dann nachgeschaut: Laut Google Maps dauert eine Fahrt von Jerusalem nach Amman tatsächlich nur knappe zwei Stunden.