09.08.2024

Journalismus

Ist die AHV-Panne auch ein Medienversagen?

Der Bund hat sich bei den AHV-Prognosen verrechnet. Aufgefallen war dies dem zuständigen Bundesamt für Sozialversicherungen. Dass nicht Medien schon früher darauf gekommen waren, mag auf den ersten Blick überraschen. Es gibt aber Gründe für den verpassten Scoop.
Journalismus: Ist die AHV-Panne auch ein Medienversagen?
Die BSV-Spitze informiert die Medien am 6. August über Fehler bei der Berechnung der AHV-Prognosen. (Bild: Keystone/Peter Klaunzer)

Der Ton ist schon so laut bis schrill. Unter Titelzeilen wie «Der Prognose-Gau» (WoZ) oder «‹Fake News› vom Bundesrat?» (NZZ) machen sich derzeit landesweit Redaktionen einen Reim auf den Rechenfehler des Bundesamts für Sozialversicherungen BSV für seine AHV-Prognosen. 

Am vergangenen Dienstag informierte die Behörde darüber, dass die «künftige finanzielle Entwicklung der AHV zu negativ dargestellt» wurde wegen zwei fehlerhafter Formeln im Berechnungspsrogramm. Fachleute des BSV entdeckten den Fehler bei internen Kontrollen.

Dann wäre wohl von einem «Skandal» die Rede

Die Schlagzeilen wären umso lauter und noch schriller, wenn nicht das Amt selbst über die Panne informiert, sondern eine Medienrecherche den Rechenfehler ans Licht gebracht hätte. Dann wäre wohl von einem «Skandal» die Rede; ein Begriff, der in der aktuellen Berichterstattung nicht auftaucht.

Die Frage liegt auf der Hand: Seit 2019 operierte das BSV mit den fehlerhaften Formeln. Wieso kam in diesen fünf Jahren keine Redaktion darauf, dass die amtlichen AHV-Prognosen nicht stimmen könnten? Mit den beiden Abstimmungen über die AHV21 und die 13. Rente stand das Sozialwerk in den letzten Jahren quasi permanent im Rampenlicht. Hätten die Medien in ihrer nobelsten Rolle als Hüter der Demokratie mit einer frühzeitigen Enthüllung die nun losgetretenen Diskussionen über eine allfällige Abstimmungswiederholung abwenden können?

Dass der Scoop ausgeblieben ist und das BSV seinen Milliarden-Fehler schliesslich in Ruhe selbst kommunizieren konnte, dafür gibt es zwei Erklärungen; eine einfache und eine etwas kompliziertere.

Erst ganz am Schluss gab es ein kleines Leck

Die einfache: Es gab kein Leak. Behördenversagen gelangt in vielen Fällen durch ein Informationsleck zu den Medien. Bei der AHV-Panne ist es nicht dazu gekomen. Seit die Spezialisten des BSV im Mai einen ersten Verdacht geschöpft hatten bis zur Medienkonferenz der BSV-Spitze am 6. August hielten alle Mitwissenden dicht. Da lag auch daran, dass sich dieser Kreis auf wenige Personen aus dem Amt und später noch aus dem Generalsekretariat des Innendepartements beschränkte. Erst einen Tag vor der intern bereits terminierten Medienkonferenz, nachdem auch der Gesamtbundesrat informiert worden war, gab es offenbar ein Leck. Eine Redaktion habe sich erkundigt, ob da etwas komme, allerdings ohne Bescheid zu wissen, worum es geht, sagt BSV-Kommunikationschef Markus Binder auf Anfrage von persoenlich.com.

Bleibt also die Frage, warum sich keine Redaktion aus eigenem Antrieb dahinter gemacht hatte, die Berechnungen der AHV-Prognosen unter die Lupen zu nehmen und die Plausibilität der amtlichen Berechnungen zu überprüfen.

So einfach wäre das nicht gewesen, wie das von aussen betrachtet aussehen mag. Zum einen weil man es mit Prognosen zu tun hat, also mit Aussagen über eine unbekannte Zukunft. Zum anderen, weil diese Voraussagen auf sehr umfangreichen Daten basieren. Hätten Medien fehlerhaften Formeln selbst aufdecken wollen, wäre das eine aufwändige und kostspielige Operation geworden, die zudem nicht zwingend zu einem klaren Ergebnis geführt hätte.

Zu aufwändig, zu teuer, zu unwägbar

Mehrere von persoenlich.com befragte Journalistinnen und Journalisten, die seit Jahren für grosse Zeitungsredaktionen aus dem Bundeshaus und auch über die AHV berichten, schliessen aus, dass eine Medienrecherche die Rechenpanne hätte ans Licht bringen können. Auch ihr Tenor: zu aufwändig, zu teuer, mit zu vielen Unwägbarkeiten verbunden.

Scheitern würde eine Rechercheversuch nur schon am Datenberg, den das BSV zur Berechnung der AHV Prognosen verwendet. Diesen würde das Amt auch nicht herausgeben, da es sich zum Teil um nicht-öffentliche Individualdaten handelt, etwa individuelle Konten der AHV-Ausgleichskassen, wie Kommunikationschef Binder erklärt. «Diese Daten dürfen wir nicht veröffentlichen und daher ist es momentan nicht einfach möglich, unsere Programme ausserhalb unserer Umgebung laufen zu lassen.» Den Code des Finanzhaushalt-Berechnungsprogramm kann das BSV aber bei Bedarf sofort zur Verfügung stellen. Grundsätzlich schliesse er nicht aus, dass nicht auch sonst jemand den Fehler hätte finden könnte. «Aber das erfordert mehrere Wochen Aufwand und Arbeit, dazu braucht es das entsprechende Fachwissen, alternative Projektionen und die personellen Ressourcen.»

Ausserdem handelt es sich bei der AHV-Panne nicht um einen eindeutigen Rechenfehler wie er etwa dem Bundesamt für Statistik unterlaufen war bei der Berechnung der Parteienstärken anlässlich der nationalen Wahlen 2023. Obwohl das BSV bereits seit 2019 mit den nun als untauglich identifizierten Rechenregeln operiert hatte, muss das noch lange nicht heissen, dass man sie deswegen bereits zu einem früheren Zeitpunkt als solche hätte entdecken können. Die beiden Formeln verstärkten sich erst über die Zeit gegenseitig und generierten schliesslich unplausible Projektionen im Bereich von Milliardenbeträgen. Wie es dazu kommen konnte, ist nun Gegenstand einer externen Untersuchung.

Mehr Aufmerksamkeit für behördliche Rechnerei

Zu diesen strukturellen Gründen, die ein frühzeitiges Aufdecken der fehlerhaften AHV-Prognosen durch die Medien verunmöglichten, kommen Mängel im Journalismus dazu, die selbst bei günstigeren Voraussetzungen eine Recherche erschwert hätten. «Journalisten haben in der Regel keine Ahnung von Statistik und Modellrechnungen und hätten solche komplexen Überprüfungen kaum selber machen können», äussert sich ein erfahrener Kollege dazu. Diplomatischer drückt sich Martin Stoll aus. Der langjährige Reporter arbeitet heute als Geschäftsführer von Öffentlichkeitsgesetz.ch, einer Organisation, die sich für ungehinderten Zugang zu amtlichen Informationen einsetzt. «Generell sollten Medienschaffende aufmerksamer gegenüber Algorithmen und Berechnungsgrundlage sein, mit denen Verwaltungsentscheidungen getroffen werden», so Stoll. Die AHV-Panne kann dazu beitragen, diese Aufmerksamkeit zu schärfen.


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