Christian Jungen, am Donnerstag wird das diesjährige Zurich Film Festival (ZFF) eröffnet. Wie unterscheidet sich die diesjährige Ausgabe von den vergangenen?
Christian Jungen: Wir haben so viele Stars am ZFF wie noch nie! Am Eröffnungsabend wird Jude Law seinen Thriller «The Order» vorstellen, in dem er einen FBI-Agenten verkörpert, der eine rechte Terrorzelle aushebt. Wir zeichnen den Hollywood-Schauspieler mit einem Goldenen Auge für seine Karriere aus. Auch an den übrigen zehn Tagen wird an jedem Abend ein grosser Star zu Gast sein, unter anderem Kate Winslet mit dem Biopic «Lee», Ralph Fiennes mit dem Vatikanthriller «Conclave», Pamela Anderson mit «The Last Showgirl» und Richard Gere mit der Dalai-Lama-Doku «Wisdom of Happiness». Damit wollen wir uns bei der Bevölkerung bedanken, bei jenen 1,35 Millionen Leuten, die in den ersten 19 Jahren das ZFF besucht haben.
Was war rückblickend auf die Planung und Organisation der Jubiläumsausgabe besonders herausfordernd und warum?
Jungen: Wegen der Rad-WM finden wir nun eine Woche später statt. Wir fallen nun fast ganz in die Herbstferien. Deshalb mussten wir das Programm «ZFF für Schulen», bei dem Lehrpersonen mit ihren Klassen einen Kinderfilm schauen gehen, um eine Woche vorziehen. Und wir konnten nicht mehr so eng mit unserem Partner-Festival San Sebastian zusammenarbeiten, mit dem wir uns in der Regel überschneiden und Filme und Gäste teilen.
«Das Interesse am Star ist die erste Etappe im Begehren, einen Film sehen zu wollen.»
Roger Crotti, Sie sind seit dem Frühjahr als Managing Director und Verwaltungsratspräsident an Bord. Worauf haben Sie bei Ihrer ersten Ausgabe den Fokus gelegt?
Roger Crotti: Es ist von zentraler Bedeutung, dass wir uns auf einer soliden finanziellen Grundlage befinden, um die langfristige Stabilität unserer Organisation zu gewährleisten. Unser Ziel ist es, alles in unserer Macht Stehende zu unternehmen, damit die Jubiläumsausgabe zu einem herausragenden Erfolg wird – für unsere Gäste, unsere Besucher und natürlich für unsere wertvollen Partner. Besonders angesichts dessen, dass 88 Prozent unserer Finanzierung aus privaten Mitteln stammen und lediglich etwas mehr als 12 Prozent durch die öffentliche Hand getragen werden, ist es äusserst wichtig, dass wir eine makellose Veranstaltung liefern. Nur so können wir gemeinsam die Weichen für eine erfolgreiche und nachhaltige Zukunft stellen.
Sie kommen von Disney Deutschland nach Zürich. In welchen Bereichen helfen Ihr Netzwerk und Ihre Erfahrung dem ZFF besonders?
Crotti: Meine langjährige Erfahrung als Disney DACH-Chef hat mir wertvolle Einblicke in die Organisation und das Management grosser Projekte ermöglicht. Diese Expertise setze ich nun ein, um gemeinsam mit dem engagierten Team das gesunde Wachstum und die strategische Ausrichtung voranzutreiben. Meine Vernetzung, sowohl international als auch im deutschsprachigen Raum, unterstützt uns dabei, neue Partnerschaften zu knüpfen und bestehende Kooperationen weiter auszubauen.
Mit Jude Law, Richard Gere, Kate Winslet und Pamela Anderson sind erneut viele Stars vor Ort. Warum ist dieses Staraufgebot für ein Filmfestival nach wie vor so wichtig?
Jungen: Das breite Publikum interessiert sich für die Stars. Das hat man ja gesehen, als das Video von Will Smith in Zürich viral ging. Das Interesse am Star ist die erste Etappe im Begehren, einen Film sehen zu wollen. Stars ziehen auch die Medien an und so gelingt es, Aufmerksamkeit für die Filme zu erzeugen. Gerade im Zeitalter von Social Media ist es wichtig, dass Hollywood seine Stars wieder vermehrt zu Premieren schickt, um Publicity zu generieren. Punkto Bekanntheit haben nämlich Sportler den Hollywoodstars den Rang abgelaufen. Cristiano Ronaldo hat auf Instagram 639 Millionen Follower, Lionel Messi 503 Millionen. Zum Vergleich: Dwayne Johnson, der grösste Hollywoodstar, bringt es auf 395 Millionen und Zendaya auf 181 Millionen.
Nebst all dem Rummel um die Stars: Wie rücken Sie die Filme, vielleicht auch die weniger prominent besetzten, ins Zentrum?
Jungen: Wir setzen zunehmend auf digitale Medien inkl. Social Media und machen unter anderem Posts mit Vergleichen, zum Beispiel «Wenn Ihnen ‘A Storm Foretold’ gefallen hat, schauen Sie ‘Homegrown’». Wir stellen die Filme auch in unserem Newsletter vor und auf Infosäulen in der ganzen Stadt. Und natürlich erwähne ich in Interviews jene Filme, die zur Zielgruppe eines Mediums passen.
«Filmfestivals setzen sich für Dialog und Verständigung ein.»
Das Zurich Film Festival präsentiert sich dieses Jahr mit einem neuen Zentrum auf dem Sechseläutenplatz. Das Ziel: Die Stars noch näher ans Publikum bringen. Wie machen Sie das?
Crotti: Wir freuen uns sehr, unseren Gästen ab dem 3. Oktober das neue Festivalzentrum auf dem Sechseläutenplatz präsentieren zu dürfen. Das aus Schweizer Holz errichtete Zentrum bildet das Herzstück unseres Festivals. Die offizielle Eröffnung können wir kaum erwarten. Das Festivalzentrum wird unseren Gästen die Möglichkeit bieten, in und um das Festival herum zu verweilen, vom Terrassenbereich aus dem Geschehen auf dem grünen Teppich sowie auf dem Sechseläutenplatz zu verfolgen. Es dient als zentraler Treffpunkt, um sich über das Programm zu informieren, Tickets und Merchandising-Artikel zu erwerben sowie Festival-Veranstaltungen mitzuverfolgen, und bietet unter anderem Raum für Hospitality-Anlässe für unsere Partner und Donatoren.
Der grüne Teppich ist mittlerweile zum Markenzeichen des ZFF geworden. Ich nehme an, daran werden Sie nichts ändern?
Jungen: Wir werden ihn grün lassen, weil er ein Distinktionsmerkmal geworden ist. Jeder in der Filmwelt weiss sofort, dass es um Zürich geht, wenn er ein Foto von einem Star auf dem grünen Teppich sieht.
Bereits im Vorfeld vom ZFF sorgte der Dokumentarfilm «Russians at War» für Aufmerksamkeit. Wieso war es Ihnen ein Anliegen, ausgerechnet diesen Film zum Ukrainekrieg nach Zürich zu bringen?
Jungen: Lassen Sie mich in einem grösseren Kontext antworten: Filmfestivals setzen sich für Dialog und Verständigung ein. Filme sollen Gefühle auslösen, zu reden geben, Diskussionen in Gang setzen. Das war und ist auch der Anspruch des ZFF. Das ZFF steht für kulturellen Austausch, Inklusion und Vielfalt – Werte, die tief in unserer Identität verankert sind. Wir glauben fest an die Kraft des Kinos.
Nach der ersten Kritik stellten Sie sich hinter den Film und die Präsenz am ZFF, wenige Tage später änderten Sie die Meinung (persoenlich.com berichtete). Was ist in der Zwischenzeit passiert?
Crotti: Das ist richtig. Christian Jungen und ich haben uns entsprechend Mitte September anlässlich einer Medienkonferenz geäussert. Zwischenzeitlich hat sich die Ausgangslage verändert. An oberster Stelle steht für uns die Sicherheit unseres Publikums, der Gäste, Partner und Mitarbeitenden. Vor diesem Hintergrund haben wir uns dafür entschieden, die Publikumsvorführungen abzusagen.
Ein Aufreger kurz vor dem Start hat punkto Aufmerksamkeit ja auch sein Gutes. Wie nehmen Sie das im aktuellen Fall wahr?
Jungen: Das ist nun wirklich nicht die Aufmerksamkeit, die sich das ZFF wünscht.
Dieses Jahr sind nur rund 100 Filme am ZFF zu sehen. Warum dieser Fokus auf Qualität anstatt Quantität?
Jungen: Durch die Streamingdienste wurde das Filmangebot völlig entgrenzt. Jeder Klassiker der Filmgeschichte ist nur einen Klick weit entfernt. Hier sind Expertinnen und Experten wie wir Kuratorinnen und Kuratoren gefragt, die stärker selektieren und Orientierung geben. Wir wollen ein Premium-Anlass sein, was den Service und die Programmqualität betrifft. Und da lautet die Devise: Weniger ist mehr. Es gibt gar nicht über 100 Meisterwerke pro Jahr.
«Das ZFF ist das wichtigste Filmfestival im deutschsprachigen Raum in der zweiten Jahreshälfte.»
Was sind für Sie beide die persönlichen Highlights des diesjährigen Programms?
Jungen: «Stealing Giants» von Laurin Merz ist ein Dokumentarfilm über den illegalen Elefantenhandel. In China explodiert die Zahl der Freizeitparks und Zoos, die Elefanten wollen. Diese werden in Laos oder Namibia illegal gefangen und ins Reich der Mitte verfrachtet. Der Film wirft mit spektakulären Bildern ein Schlaglicht auf dieses illegale Milliarden-Business. Und «September 5» des Baslers Tim Fehlbaum ist ein aufregender Medienthriller über das erste Mal, als Terror live am Fernsehen übertragen wurde. Wir erleben nämlich durch die Augen eines TV-Journalisten die Geiselnahme israelischer Athleten bei den Olympischen Spielen 1972 in München. Der Film wirft medienethische Fragen auf: Wann darf man als Sender live darauf gehen? Wessen Story wird das – die des Senders oder die der Terroristen?
Crotti: Es gibt so viele herausragende Werke, die ich als persönliche Highlights betrachte, dass es mir schwerfällt, nur ein oder zwei Filme hervorzuheben. Das diesjährige Filmprogramm vergleiche ich gerne mit einer hochwertigen Zeitung. Wann ist eine Zeitung gut? Wenn man auf jeder Seite einen Artikel findet, der das Interesse weckt. Genau dieses Gefühl vermittelt die Jubiläumsausgabe unseres Programms – sie bietet auf jeder «Seite» etwas Besonderes, das unser Publikum fesseln wird.
Zum Jubiläum drängt sich ein Blick in die Zukunft auf: Wie wollen Sie das Festival längerfristig weiterentwickeln? Worauf legen Sie hierbei den Fokus?
Jungen: Wir wollen noch stärker wahrgenommen werden im deutschsprachigen Raum. Es sollen mehr Medien und Besucher aus dem grossen Kanton nach Zürich kommen. Das ZFF zählt heute laut dem «Guardian» zu den zehn besten Filmfestivals von Europa. Wir haben ein unglaublich hohes Ansehen in Hollywood, aber in Deutschland haben wir noch Luft nach oben. Das ZFF ist das wichtigste Filmfestival im deutschsprachigen Raum in der zweiten Jahreshälfte. Deshalb werden wir vermehrt in Berlin, Hamburg und München bei den Filmfirmen networken. Inhaltlich verstehen wir uns als das Toronto von Europa: Bei uns laufen im Herbst jene Filme als Europapremiere, die ein halbes Jahr später Oscars gewinnen.
Crotti: Zukünftig wollen wir das ZFF noch stärker als zentrale Plattform für die Lancierung von Filmen im deutschsprachigen Raum etablieren. Als Präsident des Zurich Film Festivals ist es mir auch ein besonderes Anliegen, dass wir alles daransetzen werden, unserem Publikum ein erstklassiges und vielfältiges Kinoprogramm zu bieten. Das Erlebnis Kino ist ein zentraler Bestandteil der Filmkultur und trägt massgeblich dazu bei, die Magie des Films auf der grossen Leinwand erlebbar zu machen. Wir sind fest entschlossen, sicherzustellen, dass der Kinofilm auch in den kommenden Jahren eine wichtige Rolle im kulturellen Leben spielt.