28.04.2023

SRF

«Wie viel Risiko nimmt man auf sich?»

Am Donnerstag hat der «SRF Dok»-Film «Todesfalle Haute Route» Premiere gefeiert. Der «Dok»-Filmautor Frank Senn erzählt exklusiv vom Produktionsprozess, von den technischen Neuerungen und von seinen Erfahrungen als Bergsteiger.
SRF: «Wie viel Risiko nimmt man auf sich?»
Rekonstruiert in «Todesfalle Haute Route» die Ereignisse des Walliser Skitouren-Unglücks von 2018: Frank Senn. (Bilder: SRF/SRG/Servus TV/Arte)

Herr Senn, Ihr neuer Film ist eine von vielen Bergdokus, die Sie produziert haben – aber auch eine von vielen, in denen Unglücke in den Bergen im Fokus stehen. Was fasziniert Sie an den Bergen – und insbesondere an Bergunglücken?
An Bergunglücken fasziniert mich grundsätzlich nichts: Es sind tragische Ereignisse, die es immer wieder gibt. Was mich an den Bergen interessiert, ist die Auseinandersetzung mit der Natur. Auf der einen Seite sind da die Stärke und Kraft der Natur und der Berge, die eine unglaubliche Sogwirkung auf den Menschen ausüben. Andererseits ist es einfach auch die Möglichkeit, sich in den Bergen zu bewegen. Dann kommt auch dazu, dass die Berge natürlich von Bergsteigern geprägt sind. Die Unglücke und Tragödien sind eng mit der Geschichte der Berge verknüpft, weil der Mensch immer nach Herausforderungen sucht. In dem Zusammenhang gibt es Unglücke, die Bestandteil meiner Filme geworden sind. Aber grundsätzlich finde ich einfach, dass die Faszination Berg etwas ist, das wir als Schweizerinnen und Schweizer in uns tragen, da die Berge immer sehr nah sind. Ich persönlich bewege mich sehr häufig in den Bergen und habe einen sehr nahen Bezug dazu.

In «Todesfalle Haute Route» sprechen Sie mit Überlebenden. Wie haben Sie sich auf die Gespräche vorbereitet?
Es ist ein langer Prozess gewesen. Als ich vom Unglück gehört habe, habe ich gewusst, dass ich diesen Film machen will. Einer der Überlebenden, Tommaso Piccioli, hat sich relativ schnell nach dem Unglück an die Medien gewandt: Er wollte seine Geschichte erzählen, und er hat sie auch erzählt. Wir haben bereits 2018 mit ihm gearbeitet. Bis ich mit den anderen Überlebenden Kontakt aufnehmen konnte, war es ein sehr langer Weg. Julia Hruska und Luciano Cattori haben sich bis zu der Zeit noch nie geäussert. Cattori konnte ich über Kontakte finden. Und mit Hruska habe ich sehr lange über Drittpersonen Kontakt aufgebaut. Später, als ich Kontakt mit ihr hatte, führten wir sehr viele Gespräche, ob es für sie überhaupt in Frage kommt, sich zum Unglück zu äussern. Mit der Zeit haben wir eine Vertrauensbasis aufgebaut, und von dem Moment an wussten wir, «okay, wir können aufeinander zugehen, wir können diese Gespräche führen». Ich habe sie dann immer auf dem Laufenden gehalten über meine Ideen. Auch mit Steve House war es ein langer Weg, bis wir ins Gespräch kamen.

Erzählen Sie.
Über gemeinsame Bergsteigerfreunde entstand der erste Kontakt. Auch gab es sehr viele lange Vorgespräche, bevor es überhaupt zur Entscheidung kam, den Film zu machen. Und die Franzosen sind sogar erst während der Produktion des Films dazugekommen: Sie haben vom Film gehört und waren der Meinung, dass sie auch etwas dazu sagen wollen. Sie merken: Mit den Überlebenden und Beteiligten eine Vertrauensbasis aufzubauen, ist für mich ein ganz wichtiger Prozess gewesen.

«Ich will keinen Film machen, der polemisiert, sondern einen, der auf Fakten aufgebaut ist.»

Zudem sind Sie mit Piccioli die Strecke nachgelaufen, die die Wanderer genommen haben oder hätten nehmen müssen. Wie haben Sie das erlebt?
Er hat den Wunsch geäussert. Er sagte, er will unbedingt noch einmal zurück, er will den Teil noch einmal machen, auch in Gedenken an seine Freunde. Er ist gefasst, aber sehr emotional gewesen. Man hat gemerkt, wie es an ihm nagt. Und vor allem auch als wir an der Unglücksstelle waren, realisierte er wirklich, wie nahe es bei der Hütte war. Bis zu dem Zeitpunkt war ihm das so nicht bewusst. Aber dass es lediglich noch 550 Meter zur Hütte gewesen wären und dass die Tour bei schönem Wetter so leicht zu machen wäre, das ist wirklich etwas, was ihn sehr berührt hat. Und ich glaube, dass man das auch so im Film merkt.

Die Recherche für die Doku dauerte zwei Jahre. Gab es etwas, das Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?
Für mich war an der Recherche vor allem speziell, dass es ein bisschen wie ein Puzzlespiel war. Man weiss von dem Unglück und von der Tragödie, nachher fängt man an zu recherchieren, und plötzlich kommt das eine zum anderen. Da ist die Nähe zu den Protagonisten: Man hat immer mehr gesehen, was im Hintergrund gelaufen ist. Andererseits zeigte die Geschichte mit den GPS-Daten, wie verrückt sie dort eigentlich unterwegs waren. Und nachher sind auch weitere Details dazugekommen, wie die realen Aufnahmen vom Unglückstag, in denen man sieht, wie das Wetter damals war. Es war so, als ob ein Puzzleteil zum anderen passt. Es ist mir vorher noch nie passiert, dass aus diesen Puzzleteilen plötzlich so eine Gesamtgeschichte entstanden ist. Ich konnte plötzlich die ganzen Hintergründe, die ganze Dramatik und die ganze Geschichte wirklich richtig erfassen. Die andere Besonderheit war die enge Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft in Sitten, mit der ich alles gegengecheckt habe. Ich wusste: Ich will keinen Film machen, der polemisiert, sondern einen, der auf Fakten aufgebaut ist. Ich glaube, das hat die Recherche so intensiv gemacht.

Für die Nacherzählung des Unglücks kam modernste Technik, wie digitale Effekte zum Einsatz. Wie genau lief die Produktion dieser Szenen ab?
Ein Grund, die Szenen mit digitalen Effekten und VFX zu machen war, dass wir das Reenactment (Nacherzählung, Anm. der Red.) nicht im Sturm drehen konnten. Es wäre auch aus Sicherheitsgründen nicht gegangen. Und mit Spiegel TV hatten wir einen Partner, der viel Erfahrung in dem Bereich hat. Zuerst wollten wir es auf dem Simplonpass machen, mussten den Dreh aber zwei Jahre verschieben – wegen mangelnden Schnees. Schliesslich drehten wir in Hintertux. Man kann sich das so vorstellen, dass im Umkreis von 100 Metern von der Bergstation Hintertux alle Locations vom Reenactment gedreht wurden, unter anderem die Szene mit den Steinmännchen, die man dafür speziell aufgebaut hat. Die Dreharbeiten dauerten fünf Tage, während deren die Szenen punktuell entstanden sind. Eine Windmaschine und eine Nebelmaschine sind zum Einsatz gekommen. Aber der Hauptteil, der die Szenen später wirklich ausgemacht hat, ist nachher in der Bearbeitung am Computer passiert, wo jede Szene punktgenau editiert wurde: Wie stark der Sturm ist, wie stark der Nebel ist, wie stark die Schauspielerinnen und Schauspieler im Sturm sichtbar sind.

«Es ist ein Quantensprung, was sich alles dort verändert hat.»

1995 produzierten Sie ihren ersten «Dok»-Film über eine Expedition im Himalaya. Wie haben sich die technischen Möglichkeiten bis heute verändert?
Es ist eine total andere Welt gewesen. Als wir im Jahr 1995 den «DOK»-Film produzierten, haben wir eigentlich eine Serie gemacht für «Time Out», ein Sporthintergrundmagazin. Wir arbeiteten mit grossen Kameras, also sogenannten NG-Kameras. Wir hatten damals zum ersten Mal eine VHS-Kamera dabeigehabt, bei der wir dachten: «Wahnsinn, eine VHS-Kamera, eine kleine Kamera.» Und vor allem unterschied sich der Transport. Wir haben auf Bänder aufgenommen und hatten eine richtige Ladung an Bändern dabei, so dass wir überhaupt drehen konnten. Plus, dadurch dass es eine Serie war, hatten wir einen sogenannten Mailrunner.

Was war seine Aufgabe?
Der Mailrunner ist mit den Bändern über den Pass von 4500 Höhenmetern nach Kathmandu gerannt, hat dort die Bänder mit DHL an die Redaktion geschickt, hat in Kathmandu neue Bänder geholt und ist wieder über den Pass zurück in das Basislager gekommen. Wir mussten auch schauen, dass wir beim Dreh nicht zu viel Band verbrauchen. VHS ist damals nur nebenbei im Einsatz gewesen. Wir hatten ein Satellitentelefon dabei, mit dem wir ein- bis zweimal in der Woche dann tatsächlich telefoniert haben. Es ist eine total andere Welt. Heute im Basislager hat man mehr Satellitenempfang und WLAN: Man hat alles, was man überhaupt will. Man dreht mit Handys. Und es sind auch ganz andere Kameras, die dort benutzt werden, andere Lichtstärke, man dreht auf Chips. Es ist ein Quantensprung, was sich alles dort verändert hat.

«Man geht auf den Hang, ohne sich bewusst zu sein, was es bedeutet und dass die Natur eigentlich viel stärker ist.»

Nach den vielen Berichten über Bergunglücke: Mit welchen Gefühlen gehen Sie selbst in den Bergen wandern?
Also bei mir hat vor allem die Produktion von «Todesfalle Haute Route» einiges ausgelöst. Mir ist schon vorher bewusst gewesen, wie stark man der Natur ausgesetzt ist. Aber seit dem Film gehe ich anders in die Berge. Beispielsweise wähle ich die Gruppen, mit denen ich unterwegs bin, viel gezielter aus. Auch das Wetter spielt eine grössere Rolle: Wie viel Risiko nimmt man auf sich? Und es wird einem bewusst, wie stark man sich selbst in Gefahr begeben hat, indem man gewisse Risiken auf sich genommen hat. Ich mache gerne Touren und Freeride. Und der Gedanke im Hinterkopf, dass es sehr wenig braucht, damit die Situation kippt, dass es um Leben und Tod gehen könnte, oder dass man sich wirklich aktiv in Gefahr begibt, das ist mir viel bewusster geworden. Meiner Meinung nach sind wir in einer Situation, in der Bergsteigen und Bergsport zum Fashiontrend geworden sind. Man kann sich leicht am Samstag an der Langstrasse eine coole Jacke kaufen, und am Sonntagmorgen ist man dann irgendwo in den Bergen oben. Man geht auf den Hang, ohne sich bewusst zu sein, was es bedeutet und dass die Natur eigentlich viel stärker ist. Daher ist es erstaunlich, wie wenig Unfälle es gibt. Und das ist es auch, was der Film hoffentlich bei den Zuschauenden auslösen wird: Dass er sie zum Nachdenken anregt.


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KOMMENTARE

Raphael Raphael Wellig
02.05.2023 19:17 Uhr
Sehr geehrter Herr Senn Guten Tag. Vielen Dank für den ausgezeichneten Lehrfilm zum Pigne d`Arolla Drama vom April 2018. Der Bergführer war und hat ohne wenn und aber ganz klar grobfahrlässig gehandelt. Ich wünsche allen gute Bergtouren. Mit alpinen Grüssen Raphael Wellig www.raphaelwellig.ch
pierre gallaz
30.04.2023 15:22 Uhr
super Film Danke
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