Wer über den Eurovision Song Contest (ESC) berichten durfte, weiss: Wir haben spannende, ja sogar historische Wochen hinter uns. Nicht nur weil Nemo der Schweiz einen Sieg beschert hat und die SRG die späteste Medienkonferenz ihrer Geschichte organisiert hat. Wir Journalistinnen und Journalisten mussten Wege finden, die Non-Binarität von Nemo sprachlich umzusetzen. Und das hat sich als gar nicht so einfach entpuppt. Die Bemühungen waren aber spürbar – und mehr oder weniger kreativ. So ist Nemo nun auch zum eigenen Pronomen mutiert und wird erstaunlich oft als «Gesangstalent» beschrieben. Was fast schon ein bisschen unfair ist gegenüber Künstlerinnen und Künstler, die man bloss als Sänger oder Sängerin beschreiben kann.
Ich gebe zu: Ich bin ein bisschen neidisch auf das Englische. Die «they/them»-Lösung ist nicht nur einfach. Sie ist bereits verbreitet und – so scheint mir – weitgehend akzeptiert. Ausserdem sind die meisten Nomen nicht gegendert. Ich stelle mir vor, wie leicht es für die Reporterin vom Guardian zum Beispiel war, über Nemos Sieg zu schreiben.
Auch auf Französisch gibt es ein non-binäres Pronomen: «iel» – eine Kompaktform von il und elle, also er und sie. Die Kollegen aus der Romandie sind aber damit sparsam, hat sich in den letzten Wochen gezeigt. Das Problem: Die Variante ist nicht zu Ende gedacht, denn damit sind die Akkorde vom Partizip Perfekt und der Adjektive noch nicht gelöst. In vielen Artikeln ist von «le Biennois» oder «le chanteur» die Rede. In einem Interview vor dem ESC spricht Jean-Marc Richard, der legendäre ESC-Kommentator von RTS, von Nemo im Maskulinum. Während des Contests selbst bemühte er sich immerhin mit dem «iel».
Kann es sein, dass die non-binäre Form es auf öffentliche Dokumente schafft, bevor es dafür eine konkrete sprachliche Umsetzung gibt? Es ist unsere Verantwortung als Journalistinnen und Journalisten, an der Suche nach einer Lösung aktiv teilzunehmen. Schliesslich ist die Sprache unser alltägliches Werkzeug. Wie wäre es zum Beispiel mit dem «es»? Der abwertende Charakter würde sich vielleicht mit der Zeit verschieben. Oder wie auf Englisch: ein plurales sie/ihnen? Eins ist klar: Wir können nicht ewig auf das «Gesangstalent» zählen.
Sandra Porchet ist Redaktorin von persoenlich.com
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24.05.2024 12:40 Uhr
23.05.2024 08:23 Uhr
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Vom «Gesangstalent» und von anderen non-binären Einfällen