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«Digital only» beim Leibblatt der deutschen Linken

Im Herbst fallen bekanntlich die Blätter. Ihren Abschied von der werktäglichen Printausgabe hat die Berliner «Tageszeitung», besser bekannt unter dem Kürzel taz, also zumindest saisonal gut getimt. Das alternative Leitmedium ist der erste Baum mit bundesweiter Bedeutung im deutschen Blätterwald, der ausschliesslich auf seinen (inzwischen offenbar tragfähigen) Online-Stamm und das dazugehörige digitale Wurzelnetzwerk setzt. Denn seit dieser Woche flattert das Druckerzeugnis mit dem roten Schriftzug und den rotzfrechen Schlagzeilen nur noch samstags in die Briefkästen und Cafés unseres grossen Nordkantons.

Dass gerade jenes Medium, das die «Zeitung» im Namen und die Revolution im Herzen trägt, diesen Schnitt als Erstes wagt, ist überraschend und folgerichtig zugleich. Überraschend, weil das so progressive wie partizipative taz-Milieu ja eher für Diskussions- als Entscheidungsfreude bekannt ist. Entsprechend leistete die (rein weibliche) Chefinnenredaktion auch seit 2018 interne Überzeugungsarbeit – zunächst bei den 25'000 Genossenschafter*innen, denen die taz gehört, dann bei der in die Jahre gekommenen Printleserschaft und zuletzt auch bei den eigenen Journalist*innen. 47 Jahre nach der Gründung wird das «Seitenwende» genannte Projekt nun also umgesetzt.

Folgerichtig hingegen ist das Vorangehen des Berliner Blatts bei «digital only» aufgrund seiner Geschichte und seines Geschäftsmodells. Denn schon bei der Einführung von www.taz.de Mitte der 90er-Jahre war man Avantgarde in einer eher behäbigen Branche. Die Umstellung erleichtert aber auch, dass der Verlag bei der Produktvermarktung nicht auf Profit, sondern auf Solidarität setzt. Dieser Primat gilt bei gesellschaftspolitischen genauso wie bei technischen Innovationen. Kein Wunder, dass die Umwandlungsquote der 14’000 Printabos schon bei satten 57 der angestrebten 70 Prozent liegt. Das freiwillige Online-Bezahlmodell von aktuell 45’000 Solidarischen wächst parallel dazu weiter.

Das «taz first»-Prinzip scheint also zu funktionieren. Bleibt die Frage, wann welche Konkurrenz folgt. Und was es dabei, abgesehen von den «Appenings», an denen Chefinnenredaktion und Verlagsleitung immer wieder geduldig die Fragen aller Betroffenen beantwortet haben, vom Leibblatt der Linken zu lernen gibt. Primär wohl, dass die Fokussierung aufs Digitale weder Leistungs- noch Stellenabbau bedeuten muss. Im Gegenteil. Auf die Frage, warum er die eingesparten Kosten für Druck und Vertrieb nicht an die Abonnent*innen weitergibt, antwortet der taz-Geschäftsleiter dem Kress Report: «Das tun wir doch, indem wir weiter in unseren Journalismus investieren.» Zur Erinnerung: 20 Minuten stellt seine Printausgabe per Ende Jahr ebenfalls ein und streicht deshalb 80 Vollzeitstellen. Keine Pointe.


Oliver Classen ist seit über zehn Jahren Mediensprecher der NGO Public Eye. Davor arbeitete er als Medienredaktor für die Werbewoche und war Journalist bei Handelszeitung und Tages-Anzeiger.

Unsere Kolumnistinnen und Kolumnisten vertreten ihre eigene Meinung. Sie deckt sich nicht in jedem Fall mit derjenigen der Redaktion.

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Madeleine Degenahrdt
21.10.2025 12:11 Uhr
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